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Flore Vasseur: Kriminelle Bande

Flore Vasseur wurde 1973 im französischen Annecy geboren, besuchte die Eliteuni HEC und beschreibt in „Kriminelle Bande“ mit Clara, Jérémie, Bertrand, Vanessa, Alison, Antoine und Sébastien Absolventen eben dieser Eliteuni, die es zu Politikern, Journalisten, Investmentbankern und PR-Spezialisten gebracht haben. Soweit, so gut: die diversen Charakterisierungen sind gelungen, doch hat Flore Vasseur damit wirklich, wie „Le Figaro“ meint, „das Porträt einer Generation und das finstere Abbild des Endes einer Epoche geschrieben“? Nun ja, eher das Porträt einer Generation von gestressten, überaus ehrgeizigen und sozial gestörten HEC-Absolventen, denn diese werden sehr anschaulich geschildert.
 
Als Roman hat mich „Kriminelle Bande“ nicht wirklich überzeugt. Jedenfalls nicht in der ersten Hälfte, im letzten Drittel gewinnt das Buch hingegen enorm an Fahrt, wird sehr spannend und steuert auf ein dramatisches Finale zu. Überzeugend fand ich „Kriminelle Bande“ jedoch als Mentalitätsstudie von ambitionierten Franzosen. Die einzelnen Porträts sind scharfsinnig und witzig („Auf die Vorderseite eines der Zwanzigeuroscheine hat jemand mit schwarzer Tinte geschrieben: ‚Ich bin ein Stück Papier und kontrolliere dein Leben.’“), die Beschreibung der Finanzwelt ernüchternd, wenn auch gelegentlich etwas platt, dann nämlich, wenn wieder einmal die Politiker an allem Schuld sind: „Das Finanzgeschäft ist nicht verlogen. Aber es macht die Lüge möglich. Geblendet von den Zahlen und aus Angst, genauestens Rechenschaft über ein Projekt abzulegen, das der Wirklichkeit nicht standhält, hat die Politik die Zügel schiessen lassen. Als letzter Schrei der Manipulation der Massen hat sich das ‚Storytelling‘ als ein machtvolles Instrument durchgesetzt. Der grosse Mythos vom Aufbau Europas lässt sich nicht aufrechterhalten. Seine Vollendung, der Euro, wird ihn zerstören. Was weniger am räuberischen Überfall der Finanzwelt als am Versagen der von persönlichen Interessen getriebenen Politiker liegt. Ein ‚echtes‘ Gaunerstück. Die Wahrheit hat keinen Wert. Es geht nur darum, die Geschichte gut zu verkaufen.“
 
In der Tat: „Es geht nur darum eine Geschichte gut zu verkaufen“. Erinnert hat mich der Satz an meinen Sitznachbarn aus der amerikanischen Finanzwelt auf einem Flug von New York nach Zürich, der meinte, als ich mich über mein neuestes Buchprojekt ausliess: „In the end, it all comes down to marketing, isn’t it?“ Ich kann nur zustimmen, jedenfalls dann, wenn das Ziel finanzieller Erfolg und soziale Anerkennung heisst.
 
„Kriminelle Bande“ lohnt sich wegen der vielfältigen Einblicke in die heutige Finanz- und Wirtschaftswelt. Da lernen wir etwa wie radikal sich Zeitungen, die von grossen Industriekonzernen „gerettet“ werden, verändern: „Die unbefristeten Arbeitsverträge wurden durch befristete ersetzt, die angestellten Journalisten durch freie, die nach Zeilen bezahlt werden, die Vor-Ort-Recherchen durch AFP-Meldungen.“ Und wir erfahren, dass der Chef von Folmann Pachs unter der Tourette-Krankheit leidet und die Vorsitzenden multinationaler Konzerne niemandem vertrauen, weshalb denn auch die Luft ganz oben dünn wird, austrocknet und „das Denken versagt.“
 
Dass die Protagonisten von „Kriminelle Bande“ nichts als bestens funktionierende Rädchen im erbarmungslosen kapitalistischen Getriebe sind, das wissen sie, und funktionieren trotzdem gehetzt weiter. Schön auf den Punkt bringt es Alison, als sie zu ihrer Freundin Clara sagt: „Honey, wir haben uns dermassen beschnitten, dass wir keinen Atem mehr bekommen! Wir sind lustige kleine Bonsais.“
 
„Kriminelle Bande“ zeigt sehr schön auf, dass auch die schlauesten und intelligentesten Einsichten für die Katz sind, wenn Angst und Gier als Antriebskräfte nicht in Frage gestellt werden. Selbst so smarte Einsichten wie diese: „Absurder könnte es nicht sein: Die Zukunft ganzer Länder wird Leuten anvertraut, die auf den Begriff des Gemeinwohls am allergischsten reagieren.“
 
Fazit: ein anregender, weitestgehend süffig geschriebener Roman, intelligent und differenziert, gespickt mit klugen Einsichten („Würde … das ist das einzige Konzept, das weder an irgendeiner Uni, noch an den Eliteschule gelehrt wird … weil es zu subversiv ist …“), der vielfältige Einblicke in das Getriebensein erfolgshungriger Menschen vermittelt, dabei einen nüchternen Blick auf das Gebaren der Machtelite wirft und aufzeigt, wie die Bürger Europas verschaukelt werden: „Je mehr ein Unternehmen ausgibt, um sich den Anstrich zu geben, ‚menschlich‘ zu sein, umso weniger ist es das.“
 
PS: Einigermassen verblüfft war ich, dass dem Lektorat dieses tollen Verlages ein solch hölzerner Satz durchgegangen ist: „Er hatte sie mit einigen Brocken Chinesisch und nicht mehr feierlicher Galanterie auf die französische Art bezirzt.“

Flore Vasseur
Kriminelle Bande
Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2014

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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