“Wear the world as a loose garment, which touches us in a few places and there lightly.“ Dieser Satz – er wird Franz von Assisi zugeschrieben – begleitet mich seit einigen Wochen recht intensiv und er geht mir auch während der Lektüre von Otto A. Böhmers schönem Buch Lichte Momente immer wieder durch den Kopf, denn dem Autor gelingt es, Philosophischem, dem meist Schweres und Schwieriges anhaftet, eine Leichtigkeit zu verleihen, die sowohl Herz wie auch Geist erfreut. Mein Blick auf den elitären und rechthaberischen Platon ist jedenfalls ab sofort wesentlich von diesen Sätzen geprägt: „Er galt nicht gerade als Erfinder des Frohsinns. Diogenes Laertius wusste zu berichten, dass der Philosoph in seinem ganzen Leben nie beim Lachen ertappt worden sei.“
„Wer in der Lage ist, sein Leben wie ein wohlwollender Beobachter zu betrachten, wird feststellen, dass es immer wieder Phasen des Neubeginns gibt, die, zumindest in der nachträglichen Wertung, als eminent wichtig erscheinen und einer Läuterung gleichkommen. Man ist sich fast sicher, dass eine andere Zeit begonnen hat – eine Zeit des fantastischen Gelingens, die auch mit Fehlschlägen auskommen kann.“ Diese lichten Momente – es muss betont werden – erschliessen sich einem so recht eigentlich erst im Nachhinein. Brigitte Kronauer formuliert es so: „Es gibt im glücklichsten Fall einen Kurzschluss wie in der Liebe zwischen zwei Individuen, die bisher ganz gut ohne einander ausgekommen sind und sich auf einmal fragen, wie sie das so lange geschafft haben. Noch in den scheinbar beliebigsten Abschweifungen und düstersten Assoziationen spüren wir eine Bezauberung, eine Zuversicht, die Fatalität des Lebens durch deren Formulierung besiegen zu können.“
Augustinus, Dante, Voltaire, Hume, Diderot, Nietzsche und Tschechow kommen unter anderen zu Wort, dreissig Dichter und Denker sind es insgesamt, von deren Lebens- und Werkgeschichten der geistreiche und humorbegabte Otto A. Böhmer berichtet. Die Augenblicke der Inspiration sind jedoch – entgegen dem Lichte Momente versprechenden Titel – nicht zentral, vielmehr sind es höchst aufschlussreiche Anekdoten und Zitate, die diesen Band zu einem Lesevergnügen machen. So schreibt er etwa von Sokrates: „Er schien nichts anderes zu tun zu haben, als seine Mitbürger in lästige Grundsatzgespräche zu verwickeln.“ Und seinen Text über Lessing leitet er wie folgt ein: „Es ist nicht einfach für einen Dichter, einfach zu schreiben; das Komplizierte macht mehr her. Von einem Dichter, der dunkle Satzgebilde strickt, nimmt man an, dass er schlauer sein könnte als andere, gerade weil man ihn nicht recht versteht. Wer einfach schreibt, muss zudem mutig sein: Er lehnt sich weit aus dem Fenster, alles, was er sagt, kann gegen ihn verwendet werden.“
Otto A. Böhmer promovierte über Fichte, über den er unter anderem zu berichten weiss, dass er mittellos bei Kant vorstellig wurde, der allerdings auf den Besuch eher reserviert reagierte. „Der Königsberger Philosoph war nicht mehr der jüngste; er hatte sein Lebenswerk nahezu beendet und wurde zum Dank dafür von allerlei Altersmalaisen geplagt.“ Wunderbar, wie des Autors feine Ironie die zuweilen abstrakt formulierenden und abgehobenen Philosophen ins richtige Leben zurückholt. Wie übrigens auch den Schriftsteller Thomas Mann, der „sich am liebsten über bedeutende Themen Gedanken“ machte; „es konnte daher nicht ausbleiben, dass er sich auch gern mit sich selbst beschäftigte.“
Unter den Dichtern und Denkern hat man so seine Favoriten. Zu den meinen gehören Henry David Thoreau, über den Nathaniel Hawthornes Fazit lautete: „… ein gedankenreicher und origineller Mensch, mit einer gewissen Starrheit in seinem Charakter, die an einen eisernen Schürhaken erinnert und interessant ist, aber bei näherem und häufigem Umgang ziemlich ermüdend wirkt.“ Ein ganz wunderbarer Fund! So habe ich über Thoreau noch nie gelesen. Am Rande: Die vielfältigen Funde (auch das Finden ist eine Kunst) allein machen dieses Buch für mich zu einem Muss!
Die grösste Entdeckung in diesem Buch der Entdeckungen war für mich Cioran, natürlich auch deswegen, weil mir ausser seinem Namen und seiner rumänischen Herkunft so recht eigentlich nichts von ihm bekannt war, der mit gerade einundzwanzig Jahren schrieb: „Ich habe damals Philosophie studiert, ganz ernsthaft. Philosophie ist sehr gefährlich für junge Leute, man wird dünkelhaft, man bläht sich auf, man ist unglaublich von sich selbst eingenommen. Die Philosophiestudenten sind eigentlich unerträglich, überheblich, von einer provozierenden Eitelkeit …“. Als er mit 26 Jahren nach Paris ging, kommentiert Otto A. Böhmer das so: „Als Philosoph mochte sich Cioran noch immer nicht sehen, eher als ‚missglückten Buddhisten‘. An der Philosophie störte ihn ihr ausgeprägter Ordnungssinn, ein fast beamtenhaftes Bemühen das Chaos der Weltläufigkeit in Regelwerke zu kleiden, die nicht haltbarer sein konnten als die vom regen Zerfall bedrohten Körper ihrer Urheber.“ Solcher Sätze (und Erkenntnisse) wegen lese ich Bücher. Und wegen dieser hilfreichen Einsicht Ciorans: „Schreiben ist die einzige Behandlung, wenn man keine Arzneien nimmt. Dann muss man schreiben. Auch der Akt des Schreibens allein ist eine Genesung. … Formulieren ist Heilung, auch wenn man Unsinn schreibt, auch wenn man kein Talent hat ..“.
Otto A. Böhmer
Lichte Momente
DVA, München 2018