So richtig sicher bin ich mir zwar nicht, doch mein Eindruck ist nicht nur ein flüchtiger: Die Bücher, die mich sprachlich am meisten ansprechen, sind von Frauen geschrieben worden. Janet Malcolm, Alice Munro, Zora del Buono und Marie-Luise Scherer, von der hier die Rede sein soll. Genauer: von ihrem 2004 erstmals erschienenen und jetzt wieder veröffentlichten „Der Akkordeonspieler“.
Irgendwo habe ich mal gelesen, Marie-Luise Scherer ringe um jeden Satz. Ob das stimmt, weiss ich nicht, doch ihre Sätze wirken ganz eindeutig nicht so, als ob sie mal schnell so hingeschrieben worden sind. Ganz im Gegenteil. Da hat jemand gearbeitet, sich nicht nur Mühe gegeben, sondern sich gefordert. Jedenfalls stelle ich mir das so vor.
Der aus der kaukasischen Stadt Jessentuki stammende Akkordeonspieler Wladimir Alexandrowitsch Kolenko, verheiratet, Vater dreier Söhne, hat, bevor er nach Berlin gekommen ist, in den musikalischen Kollektiven von Sanatorien gewirkt. Als ich das las, transportierten mich meine Gedanken ins estländische Pärnu, wo ich letztes Jahr in einem von Russen erbauten Sanatorium abgestiegen war. Doch die Verhältnisse im Kurhaus Kasachstan, wo Kolenko sein Akkordeon her hatte, waren entschieden anders und vor allem schäbiger.
In Berlin wagt er sich zuerst gar nicht aus dem Flughafen. Auf der Suche nach einer Unterkunft landet er bei Margot Machete, die Marie-Luise Scherer als „eine im Unglück bewanderte, rau erscheinende Frau Ende sechzig, die gegen die Lustlosigkeit und das Grübeln sich hin und wieder selbst einen aktiven Tag verordnete“ schildert, die auch eine rosa Trockenhaube besitzt, „ein Unikum aus dem Versand für Heimfriseure mit der Typenbezeichnung Fixe Susie.“
Wladimir kriegt eine Stelle im Kaufhof am Alexanderplatz, verlässt diese jedoch frühzeitig, um nach Moskau zurückzukehren, wo seine Frau ohne Geld zuhause sitzt. In der Folge kriegt er kein Deutschland-Visum mehr und so strebt er einen Namenswechsel an.
Doch ich will hier nicht die Geschichte dieses Akkordeonspielers nacherzählen, sondern auf diese ganz wunderbar eindringliche, hellsichtige und witzige Erzählung dieser aussergewöhnlich begabten Schreiberin Marie-Luise Scherer neugierig machen.
Was macht ihr Schreiben aus beziehungsweise speziell? Die Beobachtungsgabe, die Genauigkeit des Ausdrucks, die Magie ihrer Sprache. Nur wer über seine Gefühle nachgedacht, sich mit ihnen und seiner Wahrnehmung auseinandergesetzt hat, kann so klar und einfach schreiben. Solche Sätze fallen einem nicht einfach zu, solche Sätze muss man sich erarbeiten, ja abringen.
Ein Beispiel:
„Er spielt ohne Mütze und kann daher den Klang von Silbergeld und Groschen unterscheiden. So hört er bis zum Mittag vor allem Groschen niedergehen, von den Müttern erbettelte Kinderspenden. Die Kinder wollen ständig etwas geben, so wie sie ständig füttern wollen bei ihren Zoobesuchen, und nähern sich Kolenkos Schüssel wie einer fordernd ausgestreckten Affenhand.“
Marie-Luise Scherer lässt mich auch Russland, das ich nur aus Büchern kenne, erfahren. Und erzählt unter anderem von auf der ganzen Welt verstreuten Russen, die sich zu einer Hochzeit in Berlin treffen – eine elegante und amüsante Schilderung, die ihresgleichen sucht. „Von Glas zu Glas nahm ihre Sprachenvielfalt ab und das Russische nahm zu.“
Und von Tolstoi lese ich, dass er Vegetarier war und mit einem Huhn zu einer Mahlzeit erschienen sei. „Er habe es an einen Stuhl gebunden, auf das Tischtuch eine Axt gelegt und die Versammlung belehrt, wer ein Huhn esse, müsse es auch töten können.“
„Der Akkordeonspieler“ ist ein lebensweises Buch, das beweist, dass eine Reportage Kunst sein kann.
Marie-Luise Scherer
Der Akkordeonspieler
Matthes & Seitz, Berlin 2017
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