150 Abbildungen enthält dieser Band und man fragt sich unwillkürlich, nach welchen Kriterien die beiden an der Uni Konstanz lehrenden Autoren zu ihrer Auswahl gekommen sind. Das informative und gut geschriebene Vorwort gibt darüber Auskunft. „Die Fotografie ist ein Medium, das seit seiner Erfindung in höchst unterschiedlichen Feldern Anwendung fand und gerade dadurch seine besondere Bedeutung gewann. Will man der Fotografie gerecht werden, so kann man sie nicht einfach nur unter die Meisterwerke der Kunst einreihen.“ Hätte man das gemacht, wäre das Resultat ein Bilderbuch gewesen. Und das ist dieses Buch gerade nicht, vielmehr versucht es die unglaublich vielfältigen Erscheinungsformen der Fotografie darzustellen. Gelingt es? Ja, es gelingt, denn die Autoren schaffen es überzeugend, die Fotografie nicht nur als ästhetisches, sondern auch als historisches, kulturgeschichtliches und wissenschaftliches Dokument zu präsentieren.
Stiegler und Thürlemann verstehen die Geschichte der Fotografie als eine Geschichte der Entdeckungen und diese sind in der Tat mannigfaltig: einmal in technischer Hinsicht (von der Daguerreotypie zu digitalen Daten), dann aber auch im Sichtbarmachen (der Blick auf die Wirklichkeit wird verändert) und, dies fand ich ganz besonders interessant (weil ich das noch nie so gesehen hatte), indem sie „das Verhältnis von Nähe und Ferne radikal verändert“ (man denke etwa an die Reisefotografie).
„Dem Format des Bandes ist eine Konzentration auf Hochformate geschuldet, die allerdings für die Fotografiegeschichte insgesamt keineswegs typisch ist. Das Gros der Bilder vor allem im 20. und 21. Jahrhundert sind Querformate …“. Es sind solche aufschlussreichen Informationen (und das Buch ist voll davon), die diesen Band für mich zu einer wahren Schatztruhe machen.
Es versteht sich, die Fotos, die mich schon seit Jahren faszinieren (und über einige von ihnen habe ich auch selber publiziert), hatten meine ganz besondere Aufmerksamkeit. Etwa Dorothea Langes „Mutter einer Wanderarbeiterfamilie“ oder Robert Capas „Fallender Soldat“ – ich fand beide Texte sehr gelungen, auch wenn ich das Capa-Bild anders gewichte (meine Quelle ist John Mraz auf http://www.zonezero.com): Capa erzählte einer Freundin, der deutschen Fotografin Hansel Mieth, die für das Magazin „Life“ arbeitete, der Milizionär und er hätten geblödelt. Der Milizionär hatte offenbar für die Kamera so getan, als ob er mitten im Gefecht stünde. In diesem Moment tauchten faschistische Soldaten auf und begannen zu schiessen, wobei der Milizionär zu Tode kam.
Einige der mir besonders lieben Fotos, etwa René Burris „Männer auf dem Dach, São Paulo, 1960“ oder Sebastião Salgados „Goldmine von Serra Pelada“, begann ich nach der Lektüre des Begleittextes neu zu sehen. Im Falle von Burri machte er mich darauf aufmerksam, wie irreführend diese Bildlegende ist; im Falle von Salgado wegen so treffenden Ausführungen wie diesen: „Aus der Distanz betrachtet schliessen sich die Individuen zu einer regelmässig bewegten, ornamental verknüpften Masse zusammen. Man könnte an die geknechteten Sklavenheere der Antike denken, wenn man nicht wüsste, dass es die Hoffnung auf Gewinn war, die die Männer dazu gebracht hat, sich in einer Art von Ameisenstaat mit eigenen Regeln zu organisieren.“ Andere Fotos begann ich überhaupt erst „zu sehen“, weil mir der Text dazu klar machte, was meine Augen bislang nur registriert hatten.
Fazit: Eine echte Bereicherung für alle, denen Fotografie mehr bedeutet, als einfach nur Bilder anzugucken.
Bernd Stiegler / Felix Thürlemann
Meisterwerke der Fotografie
Reclam, Stuttgart 2011