Sophia, 38, ist Journalistin, Daniel, 48, ein berühmter Cellist, der sie fragt: „Sie wissen also überhaupt nicht, wer ich bin?“, als sie sich zu ihm an den Tisch gesetzt hatte. So hatten sie sich kennengelernt. Und so kommentiert das der Autor Georg M. Oswald: „Jedes Paar erzählt die Geschichte, wie es sich kennengelernt hat, immer wieder gerne. Staaten haben Gründungsmythen, Paare auch.“ Ein schöner Vergleich, der vermutlich nur einem Juristen einfallen kann.
Die Geschichte, die sich vieler Rückblenden bedient, spielt in München, einer Stadt, die einen „eigenartigen Ruf hatte, so liebenswert und lächerlich, so pompös und imposant, so provinziell und hochberühmt.“
Schon auf den ersten Seiten merkt man, ihre Liebesgeschichte wird nicht gut ausgehen. Das meint nicht, dass die Geschichte einen vorhersehbaren Verlauf nimmt. Ganz im Gegenteil.
Ständig misst sich Sophia an ihrem erfolgreichen Partner. „Daniels Überzeugtheit von ihrem Talent war nicht frei von Anmassung.Was machte ihn zum Experten darin, zu beurteilen, wie talentiert sie war? Sie selbst kannte sich viel länger als er. Wie konnte er so sicher sein, er kenne sie besser als sie sich selbst?“ Besser kann man die Selbsteinschätzung unreifer Menschen kaum zeigen, denn natürlich können andere mehr (und vor allem anderes – etwa Dinge, die einem entgehen) über sie wissen, als sie selber.
Als Daniel auf Tournee ist, erkundet sie, angetrieben von einer Mischung aus Neid und Eifersucht, sein Arbeitszimmer. Die Tagebücher liest sie zuerst nicht, doch die Fotoalben schaut sie sich an. Die Polaroids zeigen Daniel mit einer Frau, die Sophia glaubt, schon einmal gesehen zu haben. In einer Buchhandlung stösst sie zufällig auf ein Bild dieser Frau. Sie macht sich auf die Suche und taucht ein in die Münchner Szene Ende der 1980er – eine Zeitreise in eine, aus heutiger Perspektive, grösstenteils naiv-alternativ-kreativ-exotische Epoche, in der jedoch auch gefährliche Geistesgestörte unterwegs waren.
Dann entschliesst sich Sophia, Daniels Tagebücher und andere Aufzeichnungen von ihm zu lesen. Und macht dabei eine Entdeckung, die sie lieber nicht gemacht hätte. Das ist packend geschildert, Georg M. Oswald versteht sich auf das Erzeugen von Spannung.
Vorleben vermittelt auch Einblicke ins klassische Musikleben. So wird etwa der Dirigent, „die mysteriöseste Figur in einem Orchester“, treffend „als echtes Rätsel“ charakterisiert. „Sein Werk hat er nicht kompniert, und es wird von anderen gespielt, und doch ist es unzweifelhaft vorhanden.“
Eindrücklich hat der Autor vor allem die unsichere, an sich selber zweifelnde Sophia getroffen. Sie sieht sich als gescheiterte Journalistin, fragt sich, was der erfolgreiche Daniel in ihr sieht. Sie bricht einen Streit vom Zaun, er geht nicht darauf ein, bleibt souverän, will ihr aus ihrem Tief hinaus helfen. Und so beginnt sie erneut, einen Roman zu schreiben. Dabei erfahren die Leser auch Interessantes übers Recherchieren. „Google erweckte ziemlich überzeugend den Eindruck, es sei das Internet. Aber das Internet war viel grösser, und blieb, wenn man Google benutzte, grösstenteils unsichtbar.“
Klare Sprache, überzeugender Aufbau, gelungene Charaktere – Vorleben ist eine spannende Mischung aus Beziehungsgeschichte, Thriller und Münchner-Milieustudie.
Georg M. Oswald
Vorleben
Piper, München 2020