Jean Detrez leitet eine Abteilung der Europäischen Kommission für Strategische Zukunftsforschung. Dass er selber nicht sagen kann, was das genau ist (er kann hingegen ausführlich darüber referieren, was es nicht ist), ist so recht eigentlich ein Merkmal bürokratischer Ungetüme, deren Sinn und Zweck der Arbeitsplatzbeschaffung für diplomierte, systemangepasste Menschen ist, für die es sonst keine Verwendung gäbe.
Detrez soll eine Machbarkeitsstudie über eine europäische Blockchain-Technologie entwickeln, damit Europa künftig weniger abhängig von China und den USA zu sein würde. „Die Blockchain ist eine Speichertechnologie, Äquivalent eines Buchführungsjournals – ein immenses anonymes und manipulationssicheres Register – , das die Historie sämtlicher zwischen den Nutzern jemals durchgeführter Transaktionen dokumentiert.“
Zwei Lobbyisten bemühen sich um ihn, er lässt sich auf geheime Treffen mit ihnen ein, ihm wird versichert, es sei alles legal. „… so war seine Art, immerfort mit der Fahne der Rechtmässigkeit herumzuschwenken, mehr noch, der strikten Rechtmässigkeit (für ihn war, wie ich vermute, die strikte Rechtmässigkeit legaler als die normale Rechtmässigkeit) …“. Es sind solche ganz wunderbaren, zum Schmunzeln einladenden Sätze, die mich für dieses schöne Buch einnehmen.
Detrez will sich von den beiden Lobbyisten nicht einfangen lassen, doch dann fällt ihm ein USB-Stick in die Hände, der geheime Informationen enthält. Hier nur soviel: Es geht um Fördermittel und Spionage, involviert sind die EU, Bulgarien und China. Und so findet sich Jean Detrez bald in China, was zwar nicht wahnsinnig realitätsnah ist (ein hoher EU-Beamte, der aus eigener Intitiative und auf eigene Rechnung vor Ort recherchiert, wirklich?) und auch, was er da erlebt (so wird ihm etwa sein MacBook Air, das er auf den Boden der WC-Kabine stellt, bevor er sich auf die Kloschüssel setzt, vor seinen Augen entwendet), wirkt arg weit hergeholt – und liest sich trotzdem spannend wie ein Thriller.
Andrerseits: Der Mann kann schreiben und weiss sich meisterhaft auszudrücken. Dass es sich um eine Übersetzung aus dem Französischen handelt, wusste ich zwar, gemerkt hätte ich es wohl nicht – so gut ist sie.
Dass dieser Roman mich als Erzählung etwas ratlos lässt, ändert nichts daran, dass ich das Buch gerne gelesen habe – ich mochte sowohl den Stil wie auch die Ausdrucksweise des Autors. So bewirkten etwa die Ausführungen des Protagonisten zur Zukunftsforschung („Die Zukunft darf nicht als etwas bereits Feststehendes betrachtet werden, vielmehr als etwas Offenes, noch zu Konstruierendes, etwas, worauf heutige Entscheidungen noch einen Einfluss haben“) oder sein Kampf mit dem diebstahlsicheren Kleiderbügel im Hotel in Dalian, dass ich laut herauslachen musste.
Mit fortschreitender Lektüre habe ich dann gemerkt, dass ich diesen Roman als einzelne voneinander unabhängige Geschichten lese und mich deshalb an der Lektüre erfreue. Neben den sprachlichen Fertigkeiten des Autors haben es mir auch die Handlungsorte angetan. In China habe ich einst unterrichtet, mein Japan-Besuch liegt noch nicht einmal ein Jahr zurück – immer neue Bilder stellen sich in meinem Kopf ein.
À propos Japan: Als Jean Detrez einmal in Tokio kein Netz für sein Handy hat und sich nach Alernativen umsieht, wird er darauf hingewiesen, dass es am Bahnhof von Shibuya öffentliche Telefonzellen gebe. Eine junge Angestellte einer Buchhandlung erklärte ihm, „die Behörden hätten sie tatsächlich niemals völlig aus dem Verkehr gezogen, weil sie die einzigen seien, die im Falle eines Erdbebens funktionierten.“
Fazit: Differenziert, feinfühlig und wunderbar ironisch.
Jean-Philippe Toussaint
Der USB-Stick
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2019