„Auffällig ist“, so Professor Armin Grau in seiner Einleitung, die den Wochenbeginn auf einer Neurologie Station beschreibt und sich wie ein Thriller liest, „dass manche Krankheiten, gerade auch solche der Nervensysteme, neu auftauchen oder auch wieder verschwinden, häufiger werden und seltener auftreten, ein Hinweis darauf, dass Umwelt und gesellschaftliche Lebensbedingungen einen Einfluss auf ihr Auftreten haben.“
Reine Nervensache sei „ein unterhaltsames und leicht verständliches Buch“ lese ich auf dem Umschlag. Also für mich nicht. Hier schreibt ein Mediziner und das liest sich zum Beispiel so: „Mit Spatel und Visitenlampe verschafft sich Dr. Said einen Überblick über den Rachen des Patienten. Die Gaumenbögen sind symmetrisch, bei Lautbildung hebt sich das Gaumensegel mittelständig, die Würgereflexe, die der Arzt vorsichtig mit dem Watteträger auslöst, sind beidseits schwach erhalten, im Rachen liegt kein Speichel und der Schluckakt kann gut initiiert werden.“ Trotz der einfachen und klaren Sprache muss ich mich da ziemlich konzentrieren, um folgen zu können.
Professor Graus Forschungsschwerpunkt ist der Schlaganfall und seine diesbezüglichen Ausführungen sind ausgesprochen hilfreich. So listet er nicht nur die Risikofaktoren auf, sondern zeigt auch, wie wir einige von diesen beeinflussen können. Zu denen, welche die Medizin nicht beeinflussen kann, gehören Alter, Geschlecht und erbliche Faktoren.
Unter der Kapitelüberschrift „Wie unser Gehirn funktioniert“ notiert er: „Wir Neurologen haben so wenig Ahnung von dem Organ, mit dem wir uns beschäftigen, wie kein anderes medizinisches Fach“. Doch was dann folgt, ist eine differenzierte Abhandlung über den Aufbau des Gehirns und seine Funktionsweise, für die man sich Zeit nehmen sollte, weil sonst kaum was hängenbleibt. Klar doch, ich spreche von mir.
Übrigens: Bei unserem Gehirn handelt es sich nicht um einen Super-Computer, von dem wir erwarten, dass er Bilder, Töne und Texte korrekt abspeichern und genau so widergeben soll. Unser Gehirn nimmt nicht einfach wahr, was ist, denn wir wären von all den Einzelheiten heillos überfordert. Stattdessen wählt das Gehirn aus, gewichtet und konstruiert so unsere Wirklichkeit. Dass die Wahrnehmung dieser Wirklichkeit überdies individuell getönt ist, gehört für mich zu den Wundern des Lebens.
Professor Grau führt aus, wie Nerven und Muskeln zusammenwirken. Dabei lerne ich viel für mich Erstaunliches, was natürlich auch daran liegt, dass ich kaum über anatomische Kenntnisse verfüge. Etwa, dass der Unterarm für alle jungen Medizinstudenten eine besondere Herausforderung darstellt. „Nicht weniger als 19 Muskeln auf jeder Seite führt mein Anatomie-Atlas auf.“ Oder dass auch die inneren Organe (Herz, Magen, Darm, Harnblase) von Nerven versorgt werden.
Erläutert werden auch chronische Nervenschädigungen, Epilepsien, Multiple Sklerose, Parkinson, Demenz. Von ganz Vielem lese ich zum ersten Mal und bin fasziniert. Von Bauchhautreflexen zum Beispiel. Überdies findet man in diesem Buch auch praktische Tipps, sei es zur Erkennung eines Schlaganfalls, sei es zu vorbeugenden Massnahmen, die dem Schutz unserer Gesundheit dienen.
Reine Nervensache ist ein überaus nützliches Buch, das anhand höchst instruktiver Fallgeschichten unser Nervensystem erklärt und aufzeigt, wie Neurologen arbeiten.
Armin Grau
Reine Nervensache
Wie das Nervensystem unser Leben bestimmt
C.H. Beck, München 2020