Dass ein Buch zur gerade rechten Zeit komme, kann man immer mal wieder hören. Im Falle von Sebastian Ostritschs Hegel. Der Weltphilosoph trifft das in ganz besonderem Masse auf die ersten Seiten des Prologs zu. Da wird nämlich geschildert, dass zu der Zeit als Georg Wilhelm Friedrich Hegel starb, die Cholera herrschte und der Philosoph am Nachmittag des 14. November 1831 nach gerade mal anderthalbtägiger Krankheit ein „schmerzfreies, sanftes, seliges Ende“ gefunden hatte. Der Totenschein wies als Todesursache die Cholera aus; ein bestens vernetzter Freund Hegels bewirkte, dass die Vorschriften für die Bestattung von Choleratoten für Hegel ausgesetzt wurden. „Die Beisetzung am 16. November 1831 wurde zu einem Massenereignis.“ In den heutigen Corona-Zeiten wäre das so in Berlin wohl kaum möglich.
Einen packenderen Einstieg in ein Sachbuch habe ich selten gelesen – und in die Biografie eines Philosophen noch gar nie (wobei: so viele Philosophen-Biografien habe ich nun auch nicht gelesen). Da ich kaum etwas von Hegel und seiner Zeit weiss, ist dieses Buch auch eine willkommene Geschichtslektion. So lerne ich etwa, dass nach dem Massenmord im September 1792 die liberal gesinnten Intellektuellen in Deutschland sich von der Revolution zu distanzieren begannen und Schiller wenige Wochen nach der Hinrichtung des französischen Königs im Januar 1793 an einen Freund schrieb: „Ich kann seit vierzehn Tagen keine französische Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an.“
Einen Menschen in seiner Zeit zu schildern, heisst natürlich auch von seinen Vorgängern und Weggefährten zu erzählen. Und so erfährt man dann auch einiges vom Denken von Kant, Spinoza, Schiller, Fichte, Schelling und Hölderlin. Der Autor Sebastian Ostritsch, der am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart lehrt, verfügt über viel pädagogisches Geschick, was sich unter anderem darin zeigt, wie er aus Humes Skepsis an der Kausalität folgert, dass wir uns von dem Gedanken lösen müssen, „dass der Mensch der Natur ihre Gesetzmässigkeiten ablesen könnte.“
Hegel sei in seinem Denken und Verhalten sehr schwäbisch gewesen, so sein Biograf. Das meint, dass ihm eine recht behäbige und joviale Mentalität eignete, die nicht mit Entweder-oder, sondern mit Weder-noch und Sowohl-als-auch operiert und sich vornimmt, den Dualismus Kants und die All-Einheit Spinozas zusammenzubringen. „Allen Reduktionismen und Einseitigkeiten, die uns nur einen verzerrten Blick auf uns selbst und das Ganze erlauben, stellt Hegel die grandiose Vision eines von der Vernunft beherrschten Universums entgegen, in dem alle Gegensätze in der Einheit des Geistes – des wahrhaft Absoluten – aufgehoben sind.“
Eigenartig, ja geradezu befremdend fand ich Hegels Reaktion auf die Schweizer Bergwelt, die er „als kalt, schroff und tot“ erlebte: „Der Anblick dieser ewigen toten Massen gab mir nichts als die einförmige und in die Länge langweilige Vorstellung: es ist so.“ Den Gegensatz totes Gestein/belebte Natur halte ich für einen vermeintlichen. So schildert der Geologe William E. Glassley in Eine wildere Zeit wie er einmal mit einem Stahlhammer kräftig auf ein besonders hartes Gestein einschlug und plötzlich etwas „wie nach versengtem Haar, heiss gewordenem Metall oder Wüstenstaub“ roch – seine Hammerschläge hatten die chemischen Verbindungen im Gestein aufgebrochen. „Das Gestein, zerbrochen durch einen von Neugier motivierten Gewaltakt, entliess Kohlenstoff-, Calcium- und Magnesiumatome in die Welt.“
Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, dass Schelling mit gerade mal 23 Jahren (durch die Unterstützung Fichtes und Goethes – einem Strippenzieher par excellence) zum ausserordentlichen Professor in Jena berufen wurde und Hegel bereits in recht jungen Jahren „echte Jünger“ um sich zu scharen vermochte.
Hegel. Der Weltphilosoph ist auch reich an Anekdoten. Bevor er es schaffte, eine Universitätsstelle antreten zu können, verbrachte Hegel einige Jahre als Hauslehrer bei der Patrizierfamilie Steiger in Bern, während Studienkollege Hölderlin bei der Schiller-Gönnerin Charlotte von Kalb als Hofmeister im Einsatz war, was diesem jedoch zu schaffen machte, gehörte es doch zu seinen Aufgaben, Frau Kalbs Sohn, einen „talentbefreiten Nichtsnutz mit einem Hang zur Daueronanie“, von diesem Zwang abzubringen. Leider erfährt man nicht, wie er dabei vorgegangen ist …
Hegel ist bereits über vierzig Jahre alt, als er am 15. September 1811 heiratet. Im Gegensatz zu Kant, so Ostrisch, der die Ehe als Vertrag zwischen zwei Individuen sah, war Hegels Vorstellung, dass die Ehepartner „aufhören, voneinander isolierte Individuen zu sein“ und gleichsam eins werden. „Die lebenslange ’seelische Zufriedenheit‘, von der Hegel allein zu träumen wagte, sollte ihm und Marie aber dann auch tatsächlich beschieden sein.“ Es versteht sich: Das kann niemand wirklich wissen, ist also Spekulation – doch das ist letztendlich jede Biografie, auch wenn nicht jede so fundiert ist wie die vorliegende.
Hegel. Der Weltphilosoph ist gleichzeitig klar argumentierte, gut geschriebene Biografie, spannende Geschichtsstunde sowie lehrreiche Einführung in das philosophische Werk. Überzeugend führt Sebastian Ostritsch aus, dass wir auch heute von Hegel lernen können. Dass der Vernunftpluralismus ein Schmarren ist, zum Beispiel. Oder dass die Überwindung der Gegensätze das zentrale Ziel des Denkens (und damit des Seins) sein sollte.
Sebastian Ostritsch
Hegel
Der Weltphilosoph
Propyläen, Berlin 2020
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