„Diese Dinge hätte ich als junger Mann studieren wollen. Bei mir hat das nie dazu gereicht, mich naturwissenschaftlichen Fragen zu stellen. Deswegen habe ich in Philosophie abgeschlossen. Und dann hat mich das Leben in eine andere Richtung gelenkt“, lässt der internationale Topmanager Sergio Marchionne den experimentellen Physiker Guido Tonelli, Autor von Genesis. Die Geschichte des Universums in sieben Tagen, wissen. So ähnlich ist es auch mir gegangen, obwohl ich weder Philosophie studiert habe, noch Manager geworden bin. Doch wer sich für die wirklich wichtigen Dinge auf der Welt zu interessiert, da bin ich mit Marchionne auf einer Linie, sollte zu Büchern wie diesem greifen. Weil sie uns helfen, uns im grösseren Ganzen zu sehen.
„Die Wissenschaft erzählt uns unsere Ursprünge in einer Geschichte, die deutlich fantastischer und gewaltiger als die der Mythen ist.“ Das ist der Ausgangspunkt für die Überlegungen in diesem Buch. Es versteht sich: Dies lässt die Auffassung ausser Acht, dass die Wissenschaft auch ein Mythos ist. Doch das wäre ein andere Geschichte. Hier geht es um experimentelle Beweise versus Glaube, auch wenn die beiden nicht immer scharf zu trennen sind.
Als Galileo Galilei 1610 publiziert, was er mit dem seltsamen Rohr eines holländischen Linsenschleifers am Himmel hat erkennen können – den Mond mit Bergen und Kratern, die Sonne, die sich um die eigene Achse dreht, voller Flecken – , bringt er das seit über tausend Jahren vorherrschende Weltbild ins Wanken: Der Mensch mit seinem Verstand steht nun im Zentrum. „Die galileische Wissenschaft ist deshalb so revolutionär, weil sie sich nicht anmasst, die Wahrheit zu besitzen, sondern unablässig nach Widerlegungen der eigenen Vorhersagen sucht.“
Wissenschaftler sind nicht nur neugierig, sondern geben ihrer Neugier nach und lassen sich von ihr leiten. In den Worten von Guido Tonelli: „Wissenschaft wird zur kreativen Suche nach ‚provisorischen Wahrheiten‘, die durch ‚vernünftige Erfahrung‘ und ‚zwingende Beweisführung‘ ermittelt werden.“ Das setzt voraus, sich von Vorurteilen und Erwartungshaltungen zu befreien, was, wie jeder weiss, eine ziemliche Herausforderung darstellt.
Was den Wissenschaftlern wie auch den Lesern von Genesis hauptsächlich im Weg steht, sind die „Anschauungen, die uns im Alltagsleben leiten – so die Beständigkeit der Dinge, die uns beruhigende scheinbare Harmonie um uns herum.“ Von diesen Vorstellungen müssen wir uns trennen, denn hinter dem Anschein eines geordneten Kosmos verbirgt sich das Chaos. „Auf mikroskopischer Ebene folgt die Materie unerbittlich den Gesetzen der Quantenmechanik, in der der Zufall und die Unschärferelation regieren. Nichts ist fest, alles brodelt in einer wechselhaften gewaltigen Vielfalt an Zuständen und Möglichkeiten.“
Es ist eine fantastische Welt, die Guido Tonelli in Genesis ausbreitet. Nur schon die Instrumente, mit denen die Wissenschaftler am CERN in Genf, wo der Autor bis 2012 in leitender Stellung beschäftigt war, zugange sind, lassen einen (zugegeben, ich spreche von mir) ziemlich sprachlos zurück. „Um grösste Energiemengen zu erreichen, braucht es gigantische Apparate wie den Grossen Hadronen-Speicherring (LHC), den grossen Teilchenbeschleuniger des CERN, der mit knapp 27 Kilometer Länge bei Genf unter der Erde verläuft.“ Mit anderen Worten: Mit dem gesunden Menschenverstand kommt man da schnell einmal an seine Grenzen.
Guido Tonelli ist ein exzellenter Erklärer, Genesis ein höchst anregendes Werk. Und auch wenn ich vieles nicht verstanden habe, so hat mich die Lektüre doch vielfältig inspiriert und meine Gedanken in Richtungen gelenkt, wohin sie selten unterwegs sind. So war und ist mir die Vorstellung, das Universum sei aus einem Vakuum entstanden beziehungsweise befinde sich noch immer in einem Vakuumzustand, nicht nur fremd, sondern so recht eigentlich unverständlich, doch die Beschreibung des Vakuums als „etwas Lebendiges, eine dynamische und sich unablässig verändernde Substanz, die voller Potentialität und Gegensätze steckt“ spricht mich sehr an. Nicht nur den Menschen wirbelt es offenbar ständig ganz gehörig herum, sondern auch das Universum.
Fazit: Gut geschrieben, anspruchsvoll, unterhaltsam und lehrreich – ein Augenöffner!
Guido Tonelli
Genesis
Die Geschichte des Universums in sieben Tagen
C.H. Beck, München 2020