„Zora del Buono hat von ihrer Grossmutter nicht nur den Vornamen geerbt, sondern auch ein Familienverhängnis, denn die alte Zora war in einen Raubmord verwickelt. Diese Geschichte und ihre Folgen bis heute erzählt dieser grosse Familienroman“, informiert der Klappentext. Und wie immer bei dieser Autorin geht das überaus gekonnt vonstatten.
Grossmutter Zora stammt aus Slowenien, Grossvater Pietro aus Süditalien, was ganz wunderbare Charakterisierungen zur Folge hat. So erfährt man etwa, dass dem Süditaliener das Schreiten („ein verinnerlichter, majestätischer Gestus, der standesunabhängig war, jeder sizilianische Fischer schritt würdevoll, und sei es nur die Quaimauer entlang.“) quasi zweite Natur ist. Pietro war übrigens kein Fischer, sondern Radiologe, und Zora eine temperamentvolle („immer Drama“) und höchst eigensinnige Tito-Bewunderin. Beide waren bei den Kommunisten aktiv.
Pietros Vater wurde von Mussolini zum Bürgermeister von Ustica bestellt, einer kleinen vulkanischen Insel nördlich von Sizilien, wo auch Antonio Gramsci, „dieses bucklige, kleinwüchsige Genie“, im Gefängnis sass bevor er nach Mailand verlegt wurde. Mit anderen Worten: Die Marschallin ist auch eine Reise in die italienische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und macht deutlich, dass die Dinge oft komplizierter sind als wir uns das gerne vorstellen. So ist Bürgermeister Giuseppe alles andere als ein eindimensionaler Faschist und das Leben auf der kleinen Insel unter anderem so: „Die Leute hungerten, es waren schwierige Zeiten, aber schlecht übereinander reden konnten sie trotzdem. Oder gerade deswegen.“
Die Marschallin zeugt unter anderem von einem Händchen für Dramatik (die Kapitel enden jeweils mit einem überraschenden Knall) und ist reich an witzig formulierten Wahrheiten. „Adelsberger wusste kaum etwas über den Faschismus oder den Kampf dagegen, was sie in ihrem Verdacht bestätigte, dass Ärzte sich vorwiegend für Krankheiten erwärmten. Mit Pietro als Ehemann hatte sie Glück gehabt, er war ein politischer Mensch, an Adelsbergers Seite hätte sie sich gelangweilt und wäre dick geworden.“
Grossmutter Zora, wie viele komplexe Menschen ein Kontrollfreak erster Güte, ist nicht nur sehr eigenwillig, sondern auch ausgesprochen eifersüchtig. So weckt etwa eine vermögende Signorina ihren Verdacht. „Ich muss etwas gegen diese Frau unternehmen, hatte Zora gedacht – und wurde schwanger. Die Macht der Mutter gegen die Macht der Geliebten.“ Die vermeintliche Geliebte entpuppte sich dann als Greisin.
Die Marschallin, einerseits eine ziemlich ungewöhnliche Familiengeschichte und andererseits ein Roman reich an höchst überzeugenden Charakteren, ist geprägt von Zora del Buonos Sprache, die es schafft, die Komplexität des Lebens zu vermitteln und damit deutlich zu machen, dass es einfache Antworten nicht gibt. Doch ist denn die Wahrheit nicht einfach? Sowieso. Sie liegt darin, die Komplexität nicht nur zuzulassen, sondern ihr mit Humor zu begegnen. Natürlich weiss ich nicht, ob die Autorin das sagen will (Motivforschung überlasse ich den einschlägig Diplomierten), doch so lese ich (unter anderem) dieses Werk.
À propos Sprache. „Zora fiel das Deutsch leichter als den anderen; die zwei Jahre im Mädchenpensionat in Wien hatten sie nicht nur mit der deutschen Sprache vertraut werden lassen, sondern ihr eine gewisse grossstädtische Noblesse eingehaucht, die im Dorf nicht jedem gefiel (oder genauer gesagt: fast keinem).“
Eine Biografie beschreibt ein Leben anhand von dem, was bekannt ist. Als Roman bezeichnet Zora del Buono Die Marschallin und macht damit deutlich, dass die Wirklichkeit nicht wirklich fassbar ist. So erfuhr ihre Grossmutter in Hemingways In einem anderen Land „all die Dinge, über die Pietro lieber schwieg, Hemingways Protagonist war schliesslich Sanitäter, erlebte genau das, was Pietro erlebt hatte, die Angst, das Sterben, den Dreck, die Kälte, auch die Anekdoten aus den Offiziersbordellen in Görz fand Zora interessant und immer fragte sie: War das so? Lügt der Mann?, und immer antwortet Pietro: Er weiss viel. Aber Zora, es ist ein Roman.“
Ein überaus gelungener, möchte ich hinzufügen – gescheit, humorvoll und einfühlsam.
Zora del Buono
Die Marschallin
C.H. Beck, München 2020