„In diesem Buch erfahren Sie nicht, wie sie noch schöner und erfolgreicher werden. Auch nicht, wie Sie es schaffen können, in noch kürzerer Zeit noch besser zu leben. Es verspricht keine sieben Geheimnisse des, keine acht Schritte zu, keine Formel für. Dieses Buch passt nicht in unsere heutige von Effizienzdenken und Erfolgsstreben geprägte Zeit“, lese ich in Gerald Hüthers Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Mir gefällt das, sehr sogar, und viele der Gedanken in diesem Buch finden meine Zustimmung. Andererseits: Der Autor, über den ich im Klappentext lese, er zähle zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands, wird kaum ohne Effizienzdenken und Erfolgsstreben dahin gekommen sein. Dass er darüber hinaus Politiker und Unternehmer berät und regelmässig zu Gast in Rundfunk und Fernsehen ist, ist vor allem ein Ausweis für Angepasstheit an den Zeitgeist.
Doch zum Positiven: Viele der aufgeführten Erkenntnisse sind höchst einleuchtend und so recht eigentlich Ausdruck des gesunden Menschenverstands, der auf Englisch common sense heisst, aber eben nicht sehr common ist. Und genau deswegen tut dieses Buch Not. So weist der Autor unter anderem (man erfährt auch einiges über die Funktionsweise des Hirns) darauf hin, dass die Ansammlung von immer mehr Wissen uns nicht wirklich bei der Frage geholfen hat, woran wir uns orientieren sollen. „Wer irgendwann verstanden hat, was ihm in seinem Leben wirklich wichtig ist, kann nicht mehr so weiterleben wie bisher.“
Das meint Grundsätzliches: Eine Regierung auszuwechseln bringt nichts beziehungsweise meist nicht das Erhoffte oder Befürchtete. Weshalb denn auch die Kernthese dieses Buches lautet: „Wer sich seiner eigenen Würde bewusst wird, ist nicht mehr verführbar.“ Das sagt und schreibt sich leichter als es ist, denn: „Wir beschäftigen uns mit mehr Dingen, als wir verarbeiten können.“ Es gilt also, uns auf Wesentliches zu besinnen. Und dazu leistet dieses Buch einen hilfreichen Beitrag.
Wie gemeinhin üblich, wirft auch Würde einen Blick zurück und die Geschichte zeigt, „dass es in jeder Epoche Personen gab, die nach einer Antwort auf die sehr grundsätzliche Frage suchten, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“ Mit der Zeit kristallisierte sich heraus, dass die Vorstellung von der Würde, die der Mensch besitzt, so recht eigentlich „die entscheidende Voraussetzung jeder demokratischen Gesellschaft“ ist.
Nur eben: auch die demokratische Gesellschaft hat uns bisher nicht davon abgehalten, uns würdelos zu verhalten, also unseren Planeten zu plündern und unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wie also wäre es möglich, den Menschen zur Umkehr zu bewegen? Gerald Hüther weist auf zwei Möglichkeiten hin: Das Scheitern sowie die Begegnung mit anderen Menschen, denn dabei machen wir die für uns wichtigsten Erfahrungen. „Aus diesen positiven wie auch negativen Erfahrungen, die wir in unseren Beziehungen zu anderen Menschen machen, entsteht im Gehirn ein inneres Bild, eine Vorstellung davon, wie Menschen ihre Beziehungen und ihr Zusammenleben gestalten müssten, damit uns derartige leidvolle Erfahrungen im Umgang mit anderen erspart bleiben. Wenn es uns gelingt, diese Vorstellung mit der Vorstellung unserer jeweiligen Identität zu verknüpfen, entsteht in unserem Hirn dieses besondere Metakonzept, dieses innere Bild, das wir mit dem Begriff und der Vorstellung unserer Würde verbinden.“
Die Würde, so Gerald Hüther, ist mehr als ein ethisches Postulat, sie ist ein neurobiologisch verankerter innerer Kompass. Er hat erlebt, dass sich Menschen ihrer Würde bewusst werden, wenn diese angesprochen und zum Thema gemacht wird. Dann merken sie auch, „wie bereitwillig sie ihre Würde den Erfordernissen ihres Alltagslebens unterordnen.“ Dem eigenen Wohlbefinden zuträglicher und dem Menschsein angemessener wäre, sich stärker an seinem inneren Kompass auszurichten und die Würde, die in uns allen steckt, ins Zentrum unseres Lebens zu stellen.
Gerald Hüther
Würde
Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft
Pantheon, München 2019