Zuallererst: Dieses mit Aquarellen von Grisha Fisher versehene Buch ist eine Augenweide voller Überraschungen. Ich jedenfalls hatte keine Ahnung, dass Pflanzen kaum erforscht sind und dass wir noch nicht einmal annähernd wissen, „wie viele es überhaupt gibt, wie sie funktionieren oder welche Eigenschaften sie besitzen.“
Der Pflanzengenetiker (was es nicht alles gibt!) Stefano Mancuso hingegen weiss einiges über Pflanzen. Dass sie empfindungsfähiger als Tiere sind, zum Beispiel. Oder dass sie äusserst mitteilsam und ausgesprochen soziale Wesen sind. Oder dass sie keineswegs unbeweglich (sie bewegen sich, wenn auch sehr langsam), sondern sesshaft sind.
Der grundlegende Unterschied von Pflanze und Tier besteht darin, dass Tiere ein Kommandozentrum besitzen und Pflanzen multizentrisch sind. Anders gesagt: Tiere sind Individuen, Pflanzen Gemeinschaftswesen. Die unglaubliche Reise der Pflanzen ist reich an solchen Informationen. Und da sie für mich neu und spannend sind, mache ich ganz wunderbare Entdeckungen.
So war mir etwa nicht bekannt, dass Pflanzen reisen. Doch das tun sie. Als im November 1963, ausgelöst von vulkanischer Aktivität auf dem Meeresboden, einhundert Kilometer südlich von Island eine neue Insel entstand, wurde sie zum Naturschutzgebiet erklärt, zu dem nur Wissenschaftler Zugang hatten, die in der Folge beobachteten, dass die Samen der Gefässplanzensorten, die sich dort ansiedelten, durch den Wind (9 Prozent), über das Meer (27 Prozent) und mit Vögeln (64 Prozent) dort hingelangt waren.
Pflanzen sind ungemein widerstandsfähig. Als nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl am 26. April 1988 das Gebiet um das Kernkraftwerk gesperrt wurde, entwickelte sich auf diesem Territorium durch das Fernbleiben der Menschen eines der artenreichsten Gebiete der ehemaligen Sowjetunion. „Trotz der Strahlung ist die pflanzliche und tierische Vielfalt inzwischen grösser als vor der Naturkatastrophe.“ Und als die Atombombe über Hiroshima explodierte und buchstäblich alles verdampfte, gab es drei Bäume, die die Atombombe überlebt hatten und noch heute in einem prächtigen Garten zu besichtigen sind.
Allem Leben ist ein unaufhaltsamer Expansionsdrang eigen. Eine Folge davon sind die invasiven Tier- und Pflanzenarten, die zu uns gelangt sind. Der Mais, zum Beispiel, der aus Mexiko kommt. Oder die aus Mittel- und Südamerika stammende Tomate. Oder das ursprünglich in Indien beheimatete Basilikum.
Der Expansionsdrang hat auch zur Folge, dass es einige Bäume an ausgesprochen unwirtliche und höchst entlegene Orte des Planeten verschlägt. Solche alleinstehende Bäume sind aussergewöhnliche Überlebenskünstler und von besonderem Interesse für die Wissenschft, denn sie sind so recht eigentlich ein Widerspruch in sich, „denn Leben ist nur in einer Gemeinschaft von Lebewesen, mit anderen Angehörigen der eigenen Art möglich.“
Am Beispiel der Fichte von Campbell Island (die Insel befindet sich etwa 600 Kilometer südlich von Neuseeland inmitten der Subantarktis und ist mit ihrer Fläche von 112 Quadratkilometern etwas grösser als Sylt) erläutert Stefano Mancuso, was den Beginn der Anthropozäns (das Zeitalter, das aktiv vom Menschen geprägt ist) markieren könnte. Neugierig geworden? Greifen Sie zu Die unglaubliche Reise der Pflanzen, es lohnt sich!
Fazit: Eine Entdeckungsreise der besonderen Art und ein wunderbarer Augenöffner.
Stefano Mancuso
Die unglaubliche Reise der Pflanzen
Klett-Cotta, Stuttgart 2020