Der erste Eindruck: Yael Adler, Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Venenheilkunde und Ernährungsmedizin, schreibt gut, persönlich, erzählt aus der alltäglichen Praxis. Ihre Grundeinstellung ist mir nicht nur sympathisch, ich teile sie. „Ich bin fest davon überzeugt, dass ein gutes, ein intaktes Verhältnis zwischen Arzt und Patient eine therapeutische Wirkung hat (…) es geht um das Bewusstwerden von Dingen und Verhaltensweisen, und das können Geräte und Medikamente allein nicht leisten.“
Die Fälle, die sie anführt, sind naturgemäss ganz unterschiedlich, genauso wie das Verhalten der Ärzte (knapp die Hälfte des angestellten ärztlichen Personals sind heutzutage Frauen), doch die Empathielosigkeit gewisser Mediziner ist erschreckend – ein abgeschlossenes Studium garantiert leider keine Mitmenschlichkeit und Einfühlungsvermögen ist kein Prüfungsfach. Übrigens: Auch Ärzte, die zu Patienten werden, werden von ihren Kollegen oft als simple Objekte behandelt.
„Die Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“, dieser viel zitierte Spruch ist aktueller denn je. „Während der Corona-Krise wurden Ärzte und Pflegekräfte als systemrelevant bezeichnet. Allerdings bleibt die Frage, wie nachhaltig diese Erkenntnis ist und ob sie Bestand haben wird: Pflege muss als Beruf mit Entwicklungschancen betrachtet werden, und dazu gehören auch höhere Löhne und eventuell sogar Gefahrenzulagen. Möglich wird das nur, wenn Kliniken sich von zu ausgeprägten wirtschaftlichen Zielen lösen und das Ansehen dieser systemrelevanten Kräfte in unserer Gesellschaft dauerhaft steigt.“
So richtig und wahr und auf den Punkt gebracht dies auch ist, die Formulierung „wenn Kliniken sich von zu ausgeprägten wirtschaftlichen Zielen lösen“ ist meines Erachtens viel zu harmlos, denn das ökonomische Denken, diese Zeitkrankheit, der wir uns alle unterordnen (meist nicht freiwillig), hat in einer Klinik schlicht nichts zu suchen. Wer eine menschliche Medizin will, muss sie von der gegenwärtigen Geld-Obsession strikt abkoppeln, denn diese räumt alles aus dem Weg, das dem Profit im Wege steht – also auch die Zeit, die der Arzt für den Patienten braucht.
„Empathie und Kommunikation kann man bis zu einem gewissen Grad erlernen.“ Das setzt jedoch die Bereitschaft dazu voraus. Fehlt diese, so wäre eine Tätigkeit im Forschungslabor günstiger. Wie sagte doch Voltaire: „Man soll vor allem Mensch sein und dann erst Arzt.“ Eine Maxime, die man sich auch bei anderen Berufsgruppen, bei denen der Kontakt mit den Mitmenschen zentral ist, wünschen würde.
Bis zu 90 Prozent jeder Kommunikation ist non-verbal. Und so sinnvoll es oft ist, eine Checkliste abzuhaken, wenn die non-verbalen Signale des Patienten nicht wahrgenommen werden, passiert das, was Frau Dr. Adler treffend so zusammenfasst: „Dr. Renner hat zugehört, aber nicht verstanden. Er hat informiert, aber nicht erklärt. Er hat sich auf die Laborwerte konzentriert, aber den Patienten übersehen.“
Yael Adler verfügt über ein pädagogisches Händchen, was sich auch in der gelungenen Gliederung, zu der auch die amüsanten Illustrationen von Katja Spitzer beitragen, zeigt. So werden etwa im Kapitel „Patient sucht Arzt“ nicht nur verschiedene Arzttypen vorgestellt, sondern es wird auch jeweils ein Fazit gezogen. „Sollte der Arzt Ihres Vertrauens ein Hypochonder zu sein: Gut für Sie!“ Dass Angst vor Krankheiten zum Arztberuf führen könnte, daran habe ich noch nie gedacht, doch einleuchtend ist es ja schon, schliesslich studieren bekanntlich auch deswegen viele Psychologie, um die eigenen Probleme besser zu verstehen.
Natürlich haben auch Mediziner ihre Lieblingspatienten. Eine solche Patiententypologie aufzustellen ist so recht eigentlich naheliegend, überrascht hat sie mich trotzdem. Positiv überrascht, denn ich finde es ausgesprochen nützlich, wenn Patienten sich über sich und ihre Wirkung Gedanken machen. Hier nur soviel: Die Zwanghaften, die mit einer umfänglichen Liste bewehrt antraben, werden durchaus geschätzt, sofern sie den Arzt nicht detailliert darauf hinweisen, was er alles besser machen könnte.
Es sind nicht zuletzt die vielen Fallgeschichten, die dieses Buch zu einer lehrreichen und unterhaltsamen Lektüre machen – weder hatte ich mir vorstellen können, dass Patienten sich gelegentlich übergriffig verhalten, noch war mir klar, dass Ärzte auch recht eigenartige Figuren sein können. Sicher, theoretisch wusste ich das, doch davon aus der Praxis zu erfahren ist eine ganz andere Geschichte. Gut also, dass Frau Doktor davon redet!
Mich spricht Wir müssen reden, Frau Doktor sehr an und das hat wesentlich damit zu tun, dass Yael Adler Ausführungen vielfältig instruktiv sind, nicht zuletzt, da sie über die Gabe verfügt, medizinische Vorgänge in verständlicher Sprache zu schildern und mich auch immer mal wieder zum Schmunzeln bringt. Etwa wenn sie schreibt: „Nacktheit ist für viele Menschen noch immer mit Scham besetzt, nicht jeder ist am FKK-Strand gross geworden.“ Ich persönlich finde es tröstlich, dass sich das nächstens kaum ändern wird.
Fazit: Spannende, gut geschriebene, informative und hilfreiche Aufklärung.
Yael Adler
Wir müssen reden, Frau Doktor
Wie Ärzte ticken und was Patienten brauchen
Droemer, München 2020