Mein Interesse an diesem monumentalen 800-Seiten-Werk gründet in meiner Auseinandersetzung mit Sontags Ansichten über Fotografie, einer Stelle aus dem Buch ihres Sohnes, David Rieff, worin er vom Sterben seiner Mutter schreibt (sie habe immer gedacht, mit ihrem Verstand würde sie in der Lage sein, auch die Mediziner-Sprache zu verstehen, und war kläglich gescheitert.) und meiner Wertschätzung von Benjamin Mosers Clarice Lispector Biografie sowie seinem Engagement für diese brasilianische Autorin. Soweit meine Rationalisierungen, die bestenfalls darüber Zeugnis geben, was mir zur Zeit gerade einleuchtet.
Bücherlesen kann auch ein sinnlicher Genuss sein – nur schon Format, Ausstattung, angenehm kurze Kapitel und leserfreundlicher Satzspiegel machen dieses Werk dazu. Dass Benjamin Moser überdies ein höchst talentierter Schreiber ist macht die Lektüre zu einem veritablen Erlebnis, bei dem man den Eindruck hat, die handelnden Personen in Fleisch und Blut vor sich zu haben. Was natürlich ein Irrtum ist, denn dass kaum etwas verschiedener ist als Mythos und Realität, das zeigt er sehr überzeugend auf – wobei mich das ständige Verweisen auf vermeintliche Gegensätze („Zunehmend ‚in der Welt zu Hause‘, wie Alfred Chester gesagt hatte, lernte sie ihre Mönchszelle schätzen.“ / „In diesen Jahren oberflächlichen Ruhms und liebloser Affären befürchtete sie, sie könne jenen kleinen Rest an Selbst verlieren, der ohnehin nie ganz sicherer Besitz gewesen war.“) ziemlich irritierte.
Die reale Susan Sontag ist nicht vom Himmel gefallen, sondern eine von ihren Eltern (und speziell der Mutter, die Alkoholikerin war) geprägte Tochter, die bereits in jungen Jahren von dem Gefühl dominiert wurde, eine Aussenseiterin zu sein (eigenartig, dass sich viele öffentliche Personen als Aussenseiter verstehen). Dazu beigetragen haben neben ihrem Intellekt und ihrer Attraktivität auch ihre Interessen, mit denen sie an der damaligen Universität von Chicago, die ein klassisches Bildungsideal pflegte, wozu gehörte, dass man nicht nur die alten Griechen kannte, sondern auch etwas von Physiologie und Quantenphysik verstand, bestens aufgehoben war.
Es ist eine spannende Lektüre, die einen das zwanzigste Jahrhundert aus einer ungewohnten und höchst aufschlussreichen Perspektive erleben lässt, reich an Details und Zusammenhängern, die mir gänzlich unbekannt waren. Etwa dass die junge Susan zusammen mit zwei Studienkollegen von Thomas Mann empfangen wurde. Oder dass Herbert Marcuse nach seiner Flucht aus Deutschland bei den Rieffs unterkam. Oder sie mit Jasper Johns eine einmonatige Affäre hatte. Oder Herberto Padilla für sechs Monate bei sich aufnahm. Oder dass Aids mit fast vierzig Millionen Toten „eine der grössten Pandemien in der Geschichte der Menschheit“ war. Und und und …
Gestaunt habe ich, dass sie, die mir vor allem als Foto-Philosophin ein Begriff ist, ihrem Sohn verbot, bei Reisen aus den Fenstern von Zügen und Bussen zu blicken und dass „Sehen für sie ihr Leben lang eine Anstrengung“ war. „Sie sagte immer, er müsse von einem Ort nur alle Fakten und historischen Daten wissen, aber aus dem Fenster zu blicken, nütze ihm nichts.“ Benjamin Moser argumentiert: „Aber gerade weil sie keine natürlichen Zugang zum Sehen hatte, war sie gezwungen, darüber zu reflektieren – etwas, was jemandem mit einem mühelosen Zugang nie in den Sinn gekommen wäre.“ Ich wäre mir da nicht so sicher, denke eher, dass, wie Susie Linfield schrieb, Intellektuelle Angst vor Emotionen haben und sich deshalb in Theorien flüchten.
Sontag ist eine Biografie voller bunter Charaktere – selten habe ich derart plastisch geschildert das grosse Welttheater miterlebt. Da tritt der lateinamerikanische Feuerwerkskörper Irene Fornés auf (eine der mich nachhaltig beeindruckenden Personen in diesem Buch) wie auch der von rigiden Vorstellungen von Schicklichkeit geleitete Philip Rieff, da wird der sie grosszügig fördernde New Yorker Verleger und Lebensfreund Roger Straus vorgestellt wie auch der auf Amphetaminen schwebende Andy Warhol. Und ich werde daran erinnert, dass Ronald Reagan „nicht zwischen Bild und Wirklichkeit, Metapher und Objekt, gefilmter Erfahrung und gelebter Erfahrung unterschied.“
Benjamin Moser erzählt jedoch nicht nur vom Leben und Wirken der nicht wirklich fassbaren Susan Sontag (welches Leben ist schon fassbar?), dieser „Grossmeisterin des Ehrgeizes“, zu deren Eigenschaften gehörte, dass sie sich von gänzlich Ungebildeten beeindrucken lassen konnte („Wir schauen uns das Kunstwerk nicht an, wenn wir es interpretieren. So betrachtet man keine Kunst“, wies sie ihr Freund Paul Thek einmal zurecht); er berichtet auch vom kulturellen Leben New Yorks, von der Gründung der ‚New York Review of Books‘ (häufig als ‚The New York Review of Each Other’s Books‘ bespöttelt), von den Eifersüchteleien und Intrigen derer, die sich für überlegen halten, weil sie über die alten Griechen reden können. „Die Welt, in der Susan sich bewegte, war boshaft.“
Überheblich, voller Selbstzweifel und mit höchsten Ansprüchen an sich selber, eine öffentliche Persona und eine private Tagebuchschreiberin (wobei sie wusste, dass auch diese Tagebücher einmal veröffentlicht werden würden), keine Frage, Susan Sontag war ein vielschichtiger Mensch (doch wer ist das nicht?). Am aufschlussreichsten fand ich die Muster, die Benjamin Moser auszumachen imstande war. Etwa dieses: „… das blieb ihr ganzes Leben bemerkenswert gleich. In wenigen Monaten verwandelte sich Leidenschaft in Bissigkeit und Eifersucht.“ Oder dieses: „In mancherlei Hinsicht – darunter einer sehr nachteiligen – hatte Susan grosse Ähnlichkeit mit ihrer Mutter.“
Sontag lässt sich auch als aufschlussreiche Einführung in die höchst kompetitive Kunstszene New Yorks lesen. Immer wieder kam mir dabei Jim Harrisons Beschreibung von Grossstädten als „centers of ambition“ in den Sinn. Man muss in der Tat ungeheuer ambitioniert sein, um es in dieser Stadt zu schaffen – und Susan Sontag war das eindeutig. Sympathisch kommt sie nicht rüber, doch sympathische Menschen sind selten aussergewöhnlich erfolgreich.
Höchst anregend fand ich vor allem die Wiederbegegnung mit Sontags Reflexionen über Fotografie. Insbesondere Sätze wie: „Die letzte Weisheit des fotografischen Bilds lautet: ‚Hier ist die Oberfläche. Nun denk darüber nach – oder besser: erfühle, erkenne intuitiv – , was darunter ist, wie eine Realität beschaffen sein muss, die so aussieht.’“ Glänzend auch ihre Einschätzung des maoistischen China: „Die Chinesen wollen nicht, dass Fotografien besonders viel aussagen. Sie wollen die Welt nicht aus einen ungewöhnlichen Blickwinkel anvisieren, um Neues zu entdecken. Fotografien sollen zu Schau stellen, was schon beschrieben ist … Für die chinesischen Behörden gibt es nur Klischees – die sie freilich nicht als klischeehafte, sondern als ‚korrekte‘ An-Sichten betrachten.“
Susan Sontag misstraute der Kamera, weil ihre Linse die Wirklichkeit verändert und sie gleichzeitig erschafft. „Diese Form des Sehens – eine Form, die Materie verwandelt und verfälscht – ist der Grund, warum Sontag der Kamera – und der Metapher – misstraute. Denn eine Fotografie ist letztlich eine Metapher – eine Sache, die für eine andere steht – , und Susan hatte eine instinktive Abneigung gegen Metaphern.“ Doch ist eine Fotografie wirklich eine Metapher? Sie kann meines Erachtens durchaus auch einfach für sich stehen.
Die Pflicht zur universellen Bildung, die unter anderen Joseph Brodsky verkörperte, durchzieht auch Susan Sontags Leben. Ein Ideal der Hochkultur, das auch diese Biografie durchzieht, wo man ständig auf Menschen trifft (Walter Benjamin, Elias Canetti und und und), deren Ansprüche an sich selber zwar zu herausragenden Werken geführt (nicht, dass ich das wirklich beurteilen könnte), aber ihnen ein gutes Leben (was auch immer das sein mag) verwehrt hat. Doch hatten sie (haben wir), denn wirklich eine Wahl? À propos Benjamin: „Ein Grund für Benjamins Selbstmord war die Tatsache, dass er sich die Bibliothek, die er den Nazis hatte überlassen müssen, nie wieder zurückholen konnte.“ Einer der dümmeren Sätze (Wer kann schon wissen, weshalb sich jemand umbringt?) dieser exzellenten Biografie. Ein anderer ist dieser hier: „Die Beziehung zwischen Fotografie und Wirklichkeit ist so belastet wie eine Beziehung zwischen zwei Menschen.“ Eine Beziehung (!)zwischen Fotografie und Wirklichkeit? Gimme a break!
Prominent kommt auch Annie Leibovitz vor. Es sind Passagen, die mir nicht nur nahegehen, sondern mich viele mir vertraute Namen in einem ganz neuen, sehr desillusionierten Licht sehen lassen, den Rolling Stone-Herausgeber Jann Wenner etwa. Oder die Rolling Stones. „Mit diesen Typen längere Zeit abzuhängen machte sie echt fertig. Es waren nicht einfach Drogen, es waren Sex und Drogen und Gemeinheit und Bösartigkeit und Grauen“, sagte eine ihrer Freundinnen. Und: „Manchmal war es sehr erniedrigend. Sie erklärte sich mit jedem Scheiss einverstanden.“ Der faustische Pakt scheint geradezu Bedingung für Erfolg in „unserem“ kapitalistischen System.
„Sie waren das schlimmste Paar, das ich je erlebt habe, was Unfreundlichkeit, Gehässigkeit und Groll anging“, sagte Sontags Sohn David, der Leibovitz nicht mochte. Die Schilderung dieser beiden Frauen, beide auf jeweils ihre Weise das Gegenteil von seelisch und geistig ausgeglichen, ist ein Meisterstück. Gewundert habe ich mich auch, wie man als Fotografin so reich werden kann.
Höchst beeindruckend ist wie Benjamin Moser es geschafft hat, diesen immensen Stoff zu organisieren. Und wie ungeheuer anregend diese Lektüre ist – ein intellektuelles Feuerwerk, das einem unter anderem, zu meiner grossen Überraschung (wie gesagt, kenne ich vor allem Sontags Gedanken zur Fotografie), auch Kleist und Cioran und John Cage („Schlimm ist nicht, wo man ist, schlimm ist nur zu denken, man wäre lieber woanders.“) näher bringt. Und mir deutlich macht, worin ihr Dilemma wesentlich lag – Selbstakzeptanz war für Susan Sontag keine Option.
Fazit: Ein überaus spannendes, höchst lehrreiches, singuläres Buch. Einfach grossartig!
Benjamin Moser
Sontag
Die Biografie
Penguin Verlag, München 2020