In meinen Augen wurde Amerika schon immer überbewertet und mit Hollywood verwechselt. Die Corona-Pandemie zeigt gerade, dass weit mehr als man sich hat vorstellen können, im Argen liegt. Ein nüchterner Blick tut schon lange Not, angesichts der jetzigen Regierung wird er dringend. Und Geschichtsprofessor Timothy Snyder liefert ihn und zwar so, wie man das am besten tut: Indem man konkret und grundsätzlich wird – seinen Anfang nimmt Die amerikanische Krankheit mit seinen eigenen Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen.
Im Dezember 2019 stimmt einiges nicht mit seiner Gesundheit. In München wird eine Blinddarmentzündung übersehen, in Connecticut wird er operiert, in Florida kurz darauf wieder krank. Schliesslich landet er mit einer Sepsis („der Tod war nahe“) in einer überfüllten Notaufnahme in New Haven. Er schildert dies nüchtern und unaufgeregt, beschreibt in einfacher Sprache, was er wahrnimmt: Ein völlig überfordertes System – kein Wunder, denn es ist darauf angelegt, dass einige wenige davon profitieren. „Die Spezialisten in Sachen Profit sind in den physischen und mentalen Raum vorgedrungen, der einst von den Spezialisten in Sachen Medizin kontrolliert wurde.“
Zeit zu haben und sich in Geduld zu üben, gehört nicht zu den Wesensmerkmalen unseres modernen Lebens. Die Beobachtungen, die der Patient Snyder im amerikanischen Spital macht, bringen es auf den Punkt: „Menschen sind bei fast jeder Aufgabe viel schlechter, wenn sie in der Nähe eines Mobiltelefons sind; beide Ärzte hatten die ihren eingeschaltet und zur Hand.“ Und: „Die ständige Ablenkung der Ärzte und Krankenschwestern ist ein Symptom unserer Krankheit. Jeder Patient hat eine Geschichte, aber niemand geht der Geschichte nach.“
Am Rande: Einmal hört er zwei Krankenschwestern sich über eine Freundin, eine schwarze Ärztin, die sich für ihn einsetzt, unterhalten. „’Wer war sie?‘ ‚Sie hat gesagt, sie sei Ärztin.‘ Sie sprachen über meine Freundin. Sie lachten (…) Rassismus beschädigte in dieser Nacht meine Lebenschancen; er beschädigt die Lebenschancen anderer in jedem Augenblick ihres Lebens.“
Warum er keine einflussreichen Fürsprecher zu seinem Schutz herbeigerufen habe, als er in der Notaufnahme gewesen sei, wird er von Kollegen gefragt. Seine Antwort zeigt, weshalb die Gesundheitspolitik mitentscheidend dafür ist, ob wir in einer wirklichen Demokratie (und nicht einer solchen des Geldes) leben. „Wenn jeder Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung zu minimalen Kosten hat, wie dies für fast alle Menschen in der entwickelten Welt gilt, ist es einfacher, Mitbürger als gleichberechtigt zu betrachten.“
Timothy Snyder ist beruflich viel unterwegs und, da er unter heftiger Migräne leidet, auch zu einer Person geworden, „die nachts in fremden Ländern Krankenhäuser aufsuchte.“ Dabei machte er auch die Erfahrung, dass „die Ärzte in Europa Zeit haben, etwas zu tun, das über das Ausstellen von Rezepten hinausgeht „…) Und mir ist klar geworden, dass sie in einem System arbeiten, dass all das ermöglicht und fördert.“ Er scheint also ausgesprochen gute Erfahrungen gemacht zu haben. Das geht allerdings nicht allen so, wie der Arzt Klaus Scheidtmann in Seitenwechsel berichtet.
Das Ehepaar Snyder hat zwei Kinder, das eine wurde in Wien geboren, das andere in den USA. Die Unterschiede sind eklatant – was in Österreich selbstverständlich ist, kostet in Amerika viel Geld. Doch Die amerikanische Krankheit stellt nicht einfach Gesundheitssysteme einander gegenüber, sondern wird grundsätzlich: Als Covid-19 die USA erreichte, wollte die US-Regierung die Wahrheit nicht wahrhaben, beschwichtigte, log und lügt immer noch. „Da die Wahrheit einen befreit, widersetzen sich die Menschen, die einen unterdrücken, der Wahrheit (…) Die Wahrheit erfordert Arbeit, Fakten stimmten oft nicht mit dem überein, was wir glauben, was wir glauben wollen oder was wir glauben sollen. Fakten sind das, was wir begreifen, wenn wir die richtige Distanz zwischen unseren Gefühlen und der Welt um uns herum feststellen.“
Fazit: Ein engagiertes und überzeugendes Plädoyer gegen die kommerzielle Medizin.
Timothy Snyder
Die amerikanische Krankheit
Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital
C.H. Beck, München 2020