Also ich etwa in der Mitte dieses Büchleins angelangt war, fragte ich mich zunehmend, was eigentlich daran philosophisch sein sollte. Dass es sich bei Covid-19 um eine Katastrophe handelt, die niemand kommen sah, dass Pandemien erwartbar sind, dass sowohl das pandemische Potential wie auch das Schadenspotential von SARS-CoV-2 erkennbar waren, dafür braucht es keine Philosophie. Doch dann, unter dem Titel „Eine Krise des Denkens“, wird es spannender. „Schreibe niemals der Bösartigkeit zu, was durch Dummheit angemessen erklärt wird“, zitieren die Autoren „Hanlons Rasiermesser“. Verschwörungstheorien, die daran kranken, dass sie Menschen der weltumspannenden Planung für fähig erachten, kann man kaum besser begegnen. „Dummheit“ meint hier übrigens: Denkfehler. Und von denen gab es einige, wie die Autoren überzeugend darlegen
Auch wenn es nicht unwesentlich an Denkfehlern liegt, dass wir nicht besser mit den Herausforderungen von Covid-19 klarkommen, es liegt auch daran, dass wir gefühlsmässig weit hinter unseren geistigen Fähigkeiten zurückgeblieben sind. So wissen etwa die Leute, dass Abstand halten angesagt ist, doch auch die, welche das nicht nur wissen, sondern auch damit einverstanden sind, halten sich oft nicht daran. Woher ich das weiss? Ich habe Augen im Kopf und ich rede mit den Leuten.
Den beiden Autoren geht es jedoch um anderes. Etwa um Experten-Argumente. Oder darum, welche Experten unser Vertrauen verdienen. „Als Laien haben wir zum Beispiel oft nur ein oberflächliches, manchmal naives Verständnis davon, für welche Probleme eine Disziplin überhaupt zuständig ist.“ Sicher, nur ist der Glaube an Disziplinen ebenfalls oberflächlich und naiv, denn diese sind nun mal nicht viel mehr als recht willkürliche Zuschreibungen.
Es versteht sich: Experten sind oft uneins und widersprechen sich auch gelegentlich selber. „Wenn sich Experten uneins sind, dann kann es sich lohnen, auf einen bestimmten Aspekt zu achten, nämlich auf den Track-Record, den ein Experte oder eine Expertin aufweist. Wenn bekannt ist, dass er oder sie mit Urteilen und Lageeinschätzungen in der Vergangenheit häufiger richtig lag als andere Personen mit vergleichbarer Expertise, dann spricht das dafür, seinem bzw. ihrem Urteil ein höheres Gewicht zu geben.“ Der gesunde Menschenverstand sieht das auch so.
Ich finde die Suche nach den sogenannt wahren Experten irritierend. „Die Virologen Christian Drosten und Alexander Kekulé beispielsweise haben ihre Meinungen auch in Bezug auf so grundlegende Punkte geändert, dass man bezweifeln könnte, ob sie in allen epidemiologisch relevanten Hinsichten Expertenstatus besitzen.“ Was für ein Anspruch! Offenbar hat das auch den beiden Autoren gedämmert, die den Experten durchaus auch einen Sinneswandel zugestehen. „Zweifel sind jedoch angebracht, wenn ihre Sinneswandel andeuten, dass sie sich nicht strikt an der wissenschaftlichen Evidenz orientieren oder diese nicht vollständig zur Kenntnis genommen haben.“ Mich hat das an die scherzhafte Bemerkung eines Chefarztes erinnert, evidenz-basierte Medizin sei, was drei Professoren behaupteten …
Auf welche Experten sollen wir uns also stützen? Sich an grösseren Experten-Gruppen orientieren sehen die Autoren als Möglichkeit und fügen hinzu, dass auch rational sein kann, einer Minderheit von Experten zu folgen. Angesichts der weitverbreiteten Herden-Mentalität, die sich auch im Glauben ausdrückt, Wettbewerb erzeuge automatisch Diversifikation (obwohl sie eher Uniformität hervorbringt), ist dies ein zu beherzigendes Argument.
Covid-19: Was in der Krise zählt zeigt überzeugend, wie klares und vernünftiges Denken bei der Bewältigung von Krisen nützlich sein kann. Das ist selbstverständlich? In der Theorie vielleicht, doch nicht in der Praxis, denn die wenigsten (so jedenfalls mein Eindruck) legen so durchdachte und nachvollziehbare Argumente vor wie dies die beiden Autoren tun, die unter anderem dafür plädieren, auf Vorrat zu denken und seinen Denkvorrat zu diversifizieren. Besonders gut gefällt mir diese Überlegung: „Rufe auf Vorrat gedachtes Wissen regelmässig ab und verbreite bzw. diversifiziere es über Köpfe, Orte und Institutionen.“ Jetzt müssten wir es nur noch tun!
Nikil Mukerji / Adriano Mannino
Covid-19: Was in der Krise zählt
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