„Diese Ausgabe folgt der Erstausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs von 1764, die damit erstmals vollständig in deutscher Übersetzung vorliegt“, lässt Herausgeber Rainer Bauer von der Voltaire Stiftung im Vorwort wissen. Auch Hinweise zur Benutzung gibt er: „Wenn Kant empfiehlt: Gebrauche deinen Verstand – würde Voltaire ihm entgegnen: ja, aber wie, wenn die Köpfe voller Unsinn stecken? Und er hat die Lösung bereit: Zurück zu den Quellen unseres Wissens, zur Beobachtung der ungetauften Natur und zur kritisch-historischen Quellenanalyse. Nicht ‚Ich denke, also bin ich‘ ist sein Credo, sondern: ‚je suis corps et je pense‘ – ‚ich bin Körper und ich denke‘, das ist eine Verlagerung des philosophischen Schwerpunkts vom Kopf auf die Füsse.“
Keine Frage, Voltaire ist ein unabhängiger Geist par excellence, der in diesem Werk vorführt, wie eigenständiges Denken geht, und zwar an 73 Stichwörtern, die er sich vorgenommen hat. Da ich von der Historie wenig Ahnung habe und von Voltaire kaum mehr weiss als dass er ‚Candide‘ geschrieben hat, lasse ich mich bei der Lektüre vom Zufall leiten – lese mich also ganz willkürlich durch diesen Band. Angesprochen hat mich etwa, was Voltaire zu den ‚Grenzen des menschlichen Geistes‘ ausführt: „Betrachte dieses Weizenkorn, das ich auf den Boden werde, und sage mir, wie es sich aufrichtet und einen Halm erzeugt, der mit einer Ähre besetzt ist. Lehre mich, wie die gleiche Erde einen Apfel oben in diesem Baum hier hervorbringt und eine Kastanie aus dem Nachbarbaum.“
Klar doch, wir wissen das nicht und bilden uns nichtsdestotrotz gar arg viel auf unser Wissen über die Welt ein. Das war nicht nur 1764 so, als dieses Werk erschienen ist, das ist heute noch genauso. Und liegt vor allem daran, dass der Mensch sich am meisten irrt, wenn er sich selber einzuschätzen hat. „Montaignes Devise war Was weiss ich?, und deine ist Was weiss ich nicht?“, so Voltaire.
Unter dem Stichwort „Über China“ geht er unter anderem auf den Mathematikprofessor Wolff ein, der die chinesische Philosophie lobte, was das Missfallen von einigen europäischen Schriftstellern hervorrief, die behaupteten, „die Regierung in Peking sei atheistisch. Wolff hatte die Philosophen von Peking gelobt, also war Wolff ein Atheist.“ Voltaire kommentiert trocken: „Neid und Hass führen niemals zu den besten logischen Schlüssen.“
„Die Kette der Ereignisse“ lautet ein anderes Stichwort, anhand dessen Voltaire ausführt, dass alle Ereignisse „mit unabwendbarer Zwangsläufigkeit miteinander verkettet“ seien und es keine Wirkung ohne Ursache gebe. Ist das wirklich so oder ist es nicht vielmehr einfach unsere Gewohnheit zu denken? Die meisten machen sich wohl keine Gedanken dazu, Voltaire schon. Seine Ausführungen sind höchst anregend und verweisen auf zwei weitere Stichworte: „Schicksal“ und „Freiheit“.
Zu meinen liebsten Erläuterungen gehören „Über die Gesetze“, wo er erzählt, zu was für Absurditäten unbedingte Gesetzestreue führen kann, um dann klar zu machen, dass die Frage, ob Gesetzestreue notwendig ist, nicht abstrakt beantwortet werden kann, sondern modifiziert werden muss: Welchen Gesetzen gilt es zu gehorchen, wie sind diese zustande gekommen, sind sie gerecht?
„Es kam mir so vor, als hätten die meisten Menschen von der Natur genügend gesunden Menschenverstand mitbekommen, um Gesetze zu machen, doch hätten nicht alle genügend Gerechtigkeitssinn, um gute Gesetze zu machen.“
Über „Wunder“ lässt er sich aus und führt Physiker und Philosophen an, über den „Charakter“ und die „Religion“ äussert er sich genauso wie über die „Sinnliche Wahrnehmung“, von der er unter anderem schreibt: „Wir empfinden stets unwillkürlich und niemals, weil wir es wollen; es ist uns unmöglich, nicht die Sinneswahrnehmungen zu haben, die unsere Natur für uns bestimmt, wenn uns ein Gegenstand ins Auge fällt.“ Schon eigenartig, wie wenig ich mich bislang darüber gewundert habe. „Das Denken setzt uns in Erstaunen; aber die Sinnesempfindung ist ganz genau so wunderbar.“
Solche Hinweise lasse ich mir gerne gefallen. Und Voltaires Philosophisches Taschenwörterbuch ist voll davon.
Voltaire
Philosophisches Taschenwörterbuch
Herausgegeben von Rainer Bauer
Reclam, Ditzingen 2020