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Erste Schritte

Jenny Odell: Nichts tun

„Nichts ist schwerer als das Nichtstun“, behauptet die Autorin nicht nur, sondern beweist es auch, denn ganz offensichtlich hat sie es vorgezogen, 270 Seiten darüber zu Papier zu bringen und dabei gemerkt, „wie wichtig es war, etwas zu tun, und (sie dabei) unweigerlich immer radikaler wurde.“

Jenny Odell, laut Klappentext Künstlerin, Schriftstellerin sowie an der Stanford University lehrend, geht es also nicht um das kontemplative Leben, sondern um eine aktive Neuorientierung. „Die erste Hälfte des ‚Nichtstuns‘ besteht darin, sich von der Aufmerksamkeitsökonomie freizumachen; die zweite darin, sich auf etwas anderes einzulassen. ‚Etwas anderes‘ ist in diesem Fall nichts Geringeres als Zeit und Raum, eine Möglichkeit, die wir erst dann haben, wenn wir uns dort mit Aufmerksamkeit begegnen.“ Ein Plädoyer also „gegen die Ortlosigkeit eines optimierten Online-Lebens“ und „für eine neue ‚Ortsfülle’“, die sich durch „Feingefühl und Verantwortung für das Historische (Was passierte hier, an dieser Stelle) und das Ökologische (Wer oder was lebt oder lebte hier)“ auszeichnen soll.

Was sich nicht in Besitz nehmen lässt, wird in unserer Kultur als unnütz betrachtet. Eine solche Auffassung nimmt das Leben nicht nur als atomisiert und optimierbar wahr, sondern glaubt zudem, dass es dem Menschen aufgegeben ist, sich die Erde zu unterwerfen. Dieses Denken ist nicht nur fehlerhaft, sondern zerstörerisch. Nichts tun zeigt auf, wie es korrigiert werden kann.

„Nichtstun“ bedeutet für Jenny Odell, dass es „einen aktiven Prozess des aufmerksamen Hinhörens anstösst, der die Auswirkungen von ethnischer, ökologischer und ökonomischer Ungerechtigkeit aufspürt und einen echten Wandel herbeiführt.“ Eine sehr eigenwillige Definition, die den Vorteil hat, dass sie von allem, was sie gerade beschäftigt und sie so tut, berichten kann – vom Rosengarten, den sie besucht, von Gilles Deleuze, von ihrem Vater, von David Hockney, von David Abraham („einer meiner Lieblingsautoren“) und so weiter.

Ihr geht es wesentlich um Self Care, im Sinne von selbsterhaltend und „Teil eines politischen Kampfes“ (Audre Lorde). Spätestens an diesem Punkt (auf Seite 52) ist mir klar, dass ich mir ein ganz anderes Buch vorgestellt hatte und dass hier wieder einmal jemand ein Buch darüber geschrieben hat, was im Kapitalismus alles falsch läuft. Nicht, dass ich das wesentlich anders sehen würde, nur ist eben auch die Existenz dieses Buch der kapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet.

Jenny Odell, eine belesene und bestens informierte Frau, zitiert immer mal wieder Autoren mit auf den ersten Blick cleveren Einsichten, die sich dann allerdings als ausgesprochen sinnfrei erweisen. Etwa den Akustik-Ökologen Gordon Hempton, „der natürliche Klanglandschaften aufnimmt“ (schon erstaunlich, womit man heutzutage sein Leben verdienen kann): „Stille ist nicht die Abwesenheit von etwas, sondern die Gegenwart von allem.“

Über „Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“, die der Untertitel verspricht, habe ich in diesem Buch nichts gelesen, es sei denn, man versteht unter Kunst einigermassen banale Aussagen wie dass Einander-Zuhören wichtig oder dass Sich-aus-der-Welt-Zurückzuziehen keine Lösung ist. „Die Welt braucht meine Teilnahme mehr denn je. Und wieder ist es keine Frage des Ob, sondern des Wie.“ Der englische Original-Untertitel spricht übrigens nicht von Kunst, sondern von Resistance und dies trifft wesentlich besser, worum es in diesem Buch geht – eine Anleitung zum politischen Widerstand gegen den zerstörerischen Kapitalismus.

Jenny Odell ruft dazu auf, sich zu verweigern. Diogenes von Sinope, Henry David Thoreau, Melvilles Bartleby sind ihr dabei, neben vielen Künstler und Künstlerinnen (kein Wunder, sie ist ja selber Künstlerin), Vorbilder. Treffend hält sie fest: „… dass eine wirkliche Verweigerung wie Bartlebys Antwort die Bedingungen der Frage selbst verweigert.“

„Ziviler Ungehorsam bedeutet in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie, Aufmerksamkeit zu entziehen“, schreibt sie an anderer Stelle. Und sie, so ist zu vermuten, auf dieses Buch zu lenken? Da wäre schon mal nicht schlecht, denn sich dem destruktiven Nachrichtenkreislauf und der Produktivitätsrhetorik zu entziehen, erlaubt eine andere, bessere, gesündere und uns zuträglichere Aufmerksamkeit zu generieren. „Im Kern war das, was ich entdeckte … der Bioregionalismus.“ Die Geschichten, die Jenny Odell erzählt, bewirken vielfältige Aufmerksamkeitserweiterungen, die zum Ziel haben, „die biologischen und kulturellen Ökosysteme wiederherzustellen“.

Für mich war jedoch etwas anderes zentral an diesem recht konventionellen Buch, das wie jedes andere Werk, das sich mit Ideen auseinandersetzt, ausführlich die alten Griechen und viele andere zu Worte kommen lässt. Es lässt sich in diesem Allerweltssatz zusammenfassen: „Nichts ist zugleich so vertraut und fremd wie das, was die ganze Zeit über da war.“ Um dies zu erkennen, braucht man nichts zu tun. Zu sehen und zu fühlen genügt.

Jenny Odell
Nichts tun
Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen
C.H. Beck, München 2021

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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