Wäre der Untertitel nicht gewesen, den ich verstanden habe, hätte ich mir dieses Buch niemals vorgenommen, denn ich verstehe seinen Titel nicht. Im Gegensatz zu meinen Jugendjahren fühle ich mich deswegen zwar nicht blöd, doch mein Respekt für Leute, die sich so ausdrücken, hält sich in Grenzen. Und so befürchtete ich einen dieser akademisch unlesbaren Texte, doch ich hatte mich getäuscht – das Werk liest sich flüssig und anregend.
Besonders angesprochen hat mich des Autors, Soziologe von Beruf, Interessens- und Wissenshorizont, der von Val McDermid über Lee Child zu Heisenberg und Nietzsche geht. Letzterer bezeichnet übrigens die Wissensoptimierung als „W a h n v o r s t e l l u n g (…,) dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande sei.“
Alexander Bogner geht davon aus, dass Demokratie nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich ist. Ich bezweifle das und halte es mit Horst Herold, dem ehemaligen Leiter des deutschen BKA, einem Sozialdemokraten, der einmal meinte, im Kapitalismus gebe es keine Demokratie, im Kapitalismus herrsche das Geld und nicht das Volk. Doch das vorliegende Buch handelt von etwas Anderem, es ist ein akademisches Buch.
Demokratie bedeutet Streit – und den hält der Autor (im Gegensatz zu mir) offenbar für positiv. Diesen Streit sieht er durch unseren Glauben an die Wissensgesellschaft gefährdet. „Die Rahmung von Konflikten als Wissenskonflikte verspricht eine Rationalisierung des Streits, an dessen Ende auch noch die Verlierer als Gewinner vom Platz gehen werden, weil sie vermittels ihrer Widerrede zum allgemeinen Wissensfortschritt beigetragen und selbst etwas dazugelernt haben: Ende gut, alles gut.“
Anhand der Corona-Krise, des Klimastreits, der Impfkontroverse sowie der Kriminalitätsdebatte zeigt er auf, dass politische Auseinandersetzungen als Wissenskonflikte ausgetragen werden. „Dabei reduziert sich der Streit auf die Frage, wer über die bessere Datengrundlage verfügt.“
Die Demokratie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass jeder Depp (und jede Deppin) mitbestimmen darf, völlig unabhängig vom Informationsstand. Dies ist dem Autor unter anderem Anlass zu Ausführungen darüber, wie viel Ignoranz die Demokratie eigentlich verträgt. Die Dummen vom politischen Prozess auszuschliessen hält er für keine Lösung (sie würde vermutlich auch keine Mehrheit finden), stattdessen setzt er auf „die Dummheit bekämpfen und daher auf (Weiter-)Bildung, Medienvielfalt, Beteiligungsinititiativen und eine anspruchsvollere Debattenkultur“, was sich für mich etwas arg nach einem Postulat anhört, das wohl alle Parteien unterschreiben würden.
Alexander Bogner geht es darum, die Politik vor der Wissenschaft zu retten. Da ich zu denen gehöre, deren Achtung vor der Politik und den Politikern im vergangenen Corona-Jahr noch tiefer gesunken ist, als ich das für möglich gehalten habe (dabei durchaus in Rechnung stellend, dass sie sich in einer extrem schwierigen Lage befunden haben und nach wie vor befinden), tendiere ich zum genauen Gegenteil – ich möchte von Leuten regiert werden, die mehr wissen als ich. Wie also kommt der Autor zu seinem Schluss?
„So wenig sich wissenschaftliche Wahrheit nach der Mehrheitsmeinung richtet, so wenig ist es Aufgabe der Politik, die Wahrheit zu vollstrecken. In der Politik geht es in erster Linie darum, ein breites Spektrum an Meinungen und Betroffenheiten zu berücksichtigen. Auf diese Weise kommt man in der Politik zu Positionen, die nicht beanspruchen können, wahr zu sein, die jedoch ein gewisses Mass an Gemeinsinn repräsentieren und dadurch mit Zustimmung rechnen können. Mehr geht nicht.“
Auch wenn ich gänzlich anderer Auffassung bin – gerade Corona hat gezeigt, dass sich ein Virus nicht um unsere Zustimmung kümmert und Politiker kaum mehr als beamtete Verkäufer sind – , lohnt die Lektüre dieses Werkes, da der Autor ganz unterschiedliche Denkansätze (von Jason Brennan bis zu Paul Feyerabend) analysiert und die Auseinandersetzung damit geeignet ist, die Wahrnehmung zu schärfen.
Alexander Bogner
Die Epistemisierung des Politischen
Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet
Reclam, Ditzingen 2021