Nichts ist für unsere Zeit charakteristischer als der Zwang, sich zu verkaufen. Weshalb denn auch der Verlag nicht nur mit den akademischen Titeln des Autors auf dem Umschlag wirbt, sondern ihn überdies noch als Intensivmediziner anpreist. Der eine oder die andere mag sich bei dieser geballten Verkaufsanstrengung fragen, was denn eigentlich so speziell daran sein soll, dass auch Mediziner Krebs kriegen können. Nun ja, einem Mediziner ist in der Regel klarer, was die Diagnose Krebs bedeutet, als einem Nicht-Mediziner – und das ist nicht unbedingt ein Vorteil.
Ins Mark getroffen wird von einem Gedanken aus Hermann Melvilles „Moby Dick“ eingeleitet, den man nicht überlesen, sondern wirken lassen sollte: „Wer unter den Sterblichen mehr Freude als Leid hat, kann nicht aufrichtig sein.“ Zugegeben, das ist nicht unsere Standardeinstellung, die eher dem Hoffen und Nicht-Wahrhaben-Wollen zuneigt, doch es ist eine nüchterne und hilfreiche Einsicht, der wir uns nicht verschliessen sollten.
„Der Arzt als Spitzenverdränger“ lautet einer der Zwischentitel, der mich zwar etwas verwundert zurückliess (die Befindlichkeiten der Ärzte sind weltweit weitgehend tabu), doch letztlich, der Ausführungen des Autors wegen, dann nicht wirklich überraschten. „Depressionen und Suchterkrankungen kommen bei Ärzten häufiger vor als in der restlichen Bevölkerung.“
Thomas Bein ist ein genauer Beobachter, ein belesener Mann und ein exzellenter Schreiber. Mit Ins Mark getroffen legt er ein Buch vor, dass durch seine Aufrichtigkeit, seine Differenziertheit und seine Empathie überzeugt. Zu letzterer macht er sich übrigens einige Gedanken, auch weil er jetzt als Patient unterschiedliche Formen kennenlernt und merkt, dass möglicherweise „das Gespür für die richtige Dosis Empathie, die der Kranke gerade jetzt braucht, noch wichtiger ist als der empathische Inhalt selbst.“
Vom Arzt wird in Sachen Empathie so recht eigentlich Unmögliches abverlangt. „Der Arzt soll sich einfühlen und gleichzeitig – auch zu seinem langfristigen Selbstschutz – distanzieren. Diese Balance ist dem Menschen biologisch nicht mitgegeben worden.“ Doch Empathie ist lernbar, so Professor Bein. Ich bin da skeptisch, denke, dass das nur gelingen kann, wenn sie in einem Menschen angelegt ist (was eindeutig nicht bei allen der Fall ist). Auch optiert er für „eine schärfere Begrifflichkeit und bessere Abgrenzungen“ von Empathie, Sympathie, Mitleid und Altruismus, ein meines Erachtens reichlich akademisches Unterfangen.
Ins Mark getroffen ist ein lebensphilosophisches Buch, das des Autors kritische Reflexionen mit der eigenen Lebenswirklichkeit, sei es als Arzt, sei es als Patient, in Beziehung setzt. Ein Beispiel: Seine Ausführungen über Gelassenheit und Gleichgültigkeit nehmen zwar Bezug auf Theorie und Zeitgeist, orientieren sich jedoch an seiner reflektierten Lebenspraxis.
Apropos Zeitgeist: Aufschlussreich ist auch wie der Intensivmediziner Bein durch Corona erlebte, wie die bislang zumeist verteufelte Maschinenmedizin über Nacht zum Heilsbringer wurde. Er selber kann daran nicht mehr teilnehmen, er gehört jetzt zur Hochrisikogruppe.
Eine Krebs-Diagnose bedeutet immer auch, sich mit der eigenen Endlichkeit zu befassen. Wie man das tut, ist individuell verschieden. Die herrschende „Gesundheitskultur“ sieht Thomas Bein skeptisch, er sucht und geht seinen eigenen Weg – die Balance zwischen „den Verführungen der technischen Allmacht und der multipotenten Todesverdrängung.“
Ins Mark getroffen ist ein sehr persönlicher Text, doch etwas ganz anderes als die Nabelschau, die der Buchumschlag suggeriert. Ich jedenfalls lese dieses Buch als eine nachdenkliche, gescheite und berührende Auseinandersetzung mit dem Arztberuf und der Frage, wie man „ein gutes“ Leben lebt.
Fazit: Eine Lektüre, die lohnt.
Prof. Dr. Thomas Bein
Ins Mark getroffen
Was meine Krebserkrankung für mich als Intensivmediziner bedeutet
Droemer, München 2021