Obwohl mir der ganzheitliche Ansatz, also das Geschehen im Körper als komplexes Netzwerk zu verstehen, sehr zusagt, bin ich bereits nach den ersten Seiten versucht, dieses Buch in die Ecke zu schmeissen. Das liegt an dem unsäglichen Ton und den vollkommen realitätsfremden Behauptungen wie etwa: „Wir alle können plötzlich Exponentialfunktionen lesen.“ Oder: „Wir haben verstanden, dass räumliche Isolation Sinn macht.“ Oder: „Wir haben gelernt, Abstand voneinander zu halten, regelmässig zu lüften, Hände zwanzig Sekunden zu waschen und Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen, vor allem auch, weil wir Risikogruppen schützen wollen.“ In was für einer Welt lebt bloss ein Mensch, der behauptet, was sich jeder Überprüfung (und ganz besonders einer wissenschaftlichen) entzieht? Jedenfalls nicht in der Welt, in der ich lebe (in der Schweiz und Brasilien).
Dass ich mir dieses Buch trotzdem vornehme, liegt allein an der netten Dame von der DVA-Presseabteilung, die es mir freundlicherweise hat zukommen lassen und der ich mich verpflichtet fühle. Und deswegen erfahre ich: Ich teile vieles, was der Autor diagnostiziert. Etwa dass die Corona-Pandemie unter anderem gezeigt hat: „Gesundheit ist kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Das Wohlergehen vieler Einzelner hängt massgeblich davon ab, wie sozial und fürsorglich sich die Gesellschaft als ganze verhält.“ Seine Folgerungen teile ich hingegen ganz und gar nicht. „Wenn in den letzten Jahren und Monaten eines klar geworden ist, dann also, dass die Menschheit gezwungen ist, auf vielen Ebenen neue Weg zu suchen und dies möglichst rasch und kompromisslos zu beschreiten.“ Wäre schön, es wäre so, doch es ist überhaupt nicht so. Jedenfalls gemäss meiner Wahrnehmung. Ganz im Gegenteil. Der Mensch will keine neuen Wege, er wehrt sich mit Händen und Füssen, er will seine alten Spielzeuge zurück.
Bei der Systembiologie liegt der Akzent auf der Gesundheit, die unterstützt werden soll, und nicht auf der Krankheit, die bekämpft wird. Dieser Perspektivenwechsel wirkt einleuchtend, doch was heisst das in der Praxis? Man sammelt so viele Daten wie irgend möglich, was dann zu erkennen erlaubt, wo potentiell Krankheiten entstehen könnten, so dass man frühzeitig eingreifen kann und so verhindert, dass ein Leiden gar nicht erst entsteht.
Peter Spork hat mit vielen Wissenschaftlern gesprochen und ist dabei auch auf extrem komplexe biologische Systeme gestossen, die mit den verbreiteten monokausalen Erklärungsmodellen schlicht nicht erfasst werden können. Ihm steht der Glaube an den technischen Fortschritt näher, der es in nicht so ferner Zukunft erlauben könnte, „das Leben ausschliesslich als das zu betrachten und zu beschreiben, was es ist: als grosses Netzwerk verbunden mit vielen anderen Netzwerken inmitten einer Menge noch viel grösserer, umfassenderer Netzwerke.“
So spannend die Fragen sind, denen die Forscher nachgehen („Welches Gen hat in welchem Kontext welche Funktion? Wie interagieren bestimmte Proteine mit bestimmten Genen? Wie werden Gene an- und ausgeschaltet?“ etc. etc.), die Vorstellung eines digitalen Zwillings befremdet mich nicht nur, ich finde ihn überhaupt nicht wünschenswert. Peter Spork sieht ihn hingegen optimistisch, denn: „Er wird uns dienen, nicht umgekehrt.“ Und zeigt anhand seines Fitnesstrackers wie sich seine Lebensqualität verbessert.
Die Vermessung des Lebens ist von Nützlichkeitserwägungen geleitet und verheisst uns eine schöne, neue Welt in Gestalt der Systembiologie, bei der nicht nur Mathematik, Informatik und Biotechnik zusammen spannen, sondern auch dabei helfen soll, Soziologie und Biologie, Psychologie und Medizin miteinander zu versöhnen. „Eine solche Form der Gesundheitsförderung wird sogar das Altern erträglicher machen. Denn (…) es ist der Alterungsprozess, der das Gegenteil von Gesundheit ist – nicht die Krankheit.“ Das klingt für mich nach „Fit in den Tod“ und das ist eindeutig nicht mein Ding.
Andererseits stellt Peter Spork viele Fragen, die ich spannend finde, und zitiert Antworten von Wissenschaftlern, die ich als anregend erlebe. Kurz und gut: Seine Beschreibung dessen, was ist beziehungsweise wie die Welt erfahren und beobachtet wird, spricht mich an; mit seinen Zukunftsvisionen kann ich hingegen wenig anfangen. Meine eigene Sichtweise hat Osho so zusammen gefasst: Life is not a problem to be solved but a miracle to be experienced.
Nichtsdestotrotz: Die Vermessung des Lebens bietet einen differenzierten und interessanten Blick auf den Strand der Forschung, bei der es auch darum geht „die vielen Bestandteile eines einzelnen hochkomplexen Lebensnetzwerks kennenzulernen.“ Wie schwierig sich diese Aufgabe gestaltet, kann man unter anderem an der Leber ablesen, in der sich etwa das epigenetische Muster in einzelnen Leberzellen je nach Lage im Organ systematisch wandelt.
Peter Spork ist nicht der verbreiteten Meinung, das endlose Sammeln und Auswerten von Daten mache abhängig. Im Gegenteil: „Die Systembiologie wird uns freier machen.“ Sicher, das Potential hätte sie, die vielen Beispiele, die der Autor vorlegt, belegen das. Andererseits ist es aber eben auch so, dass es den Menschen eigen ist, so ziemlich alles, was positiv genutzt werden könnte, auch negativ einzusetzen. Weshalb denn auch nötig ist, sich eingehend mit diesen Fragen auseinanderzusetzen – und das tut dieses Buch.
Und nicht zuletzt: Die Vermessung der Welt ist auch ein überaus aktuelles Buch, denn in unseren Corona-Zeiten ist definitiv ein Umdenken gefragt, denn nie war deutlicher, dass alles mit allem zusammenhängt. Der Anthropologe und Systemtheoretiker Gregory Bateson wusste das schon lange, seine Tochter Nora Bateson sagt es so: „Vitalität und Leben werden durch Beziehungen gemacht. Sie entstehen durch Beziehungen, die Beziehungen aufbauen, die Beziehungen aufbauen und so weiter.“ Nur schon dieser Einsicht wegen lohnt dieses Buch.
Fazit: Ein engagiertes Plädoyer für einen Perspektivenwechsel sowie eine willkommene und notwendige Horizonterweiterung.
Peter Spork
Die Vermessung des Lebens
Wie wir mit Systembiologie erstmals unseren Körper ganzheitlich begreifen – und Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen
DVA, München 2021