Dies der Hintergrund: Späte Tage der Menschheit, geprägt durch die Verwüstung des Planeten und Fanatismus jedweder Art. „Liebe und Zuversicht hatten wir, jetzt haben wir Grimm und Hass.“ Besser kann man das gesellschaftliche Klima der heutigen Zeit kaum beschreiben.
Drei Frauen, die Stadträtin Antonia Silberstein, die Schriftstellerin Ortrud Vandervelt und die Bibliothekarin Therese Flösser, zu denen sich noch ein Experte samt Ehemann gesellt – herrlich, wie die einzelnen Personen charakterisiert werden! – , begeben sich auf eine Ortsbesichtigung der besonderen Art: Die einstige, hinter Mauern versteckt liegende, Villa des ersten deutschen Literaturnobelpreisträgers Paul Heyse (1830-1914). Ein Kulturzentrum soll daraus entstehen – und den Leser erwartet eine Überraschung.
Dass man einiges über den weitestgehend vergessenen Paul Heyse, dem bislang mit einer Unterführung gedacht wird, erfährt, ist einerseits verdienstvoll, und bietet andererseits die Möglichkeit, über den Neid und die Eifersüchteleien unter den Literaten zu berichten. Dass die dem sogenannt Höheren sich verpflichtet Wähnenden nur allzu menschlich sind, weiss man zwar, doch es so elegant vorgeführt zu kriegen wie in diesem Roman, ist noch einmal etwas anderes.
Die Geschichte ist ausgesprochen bildhaft erzählt und besticht sowohl durch ihren Rhythmus als auch die überaus witzigen Dialoge. Zudem: Ich lese Am Götterbaum auch als philosophisches Buch, wobei die Philosophie hier nicht als Theorie daherkommt, sondern unauffällig (und gleichzeitig leitend) mitläuft, in Form von aufmerksamen Betrachtungen zur Weltlage, im Allgemeinen und Münchnerisch-Besonderen. Übrigens: Auch Lektüre-Anregungen findet man in diesem Roman. Ich jedenfalls bin erneut auf Stifter neugierig geworden.
Die Beschreibung Münchens, das ja immer auch sehr ambitioniert und leistungsorientiert daherkommt, wirkt so wunderbar leicht, dass es eine wahre Freude ist. Überhaupt beschert einem dieser Roman auch ein höchst amüsantes Nebeneinander. „Sie bogen in die volle Theatinerstrasse ein. Keinen Geistlichen, auch in einem Menschenstrom, gewahrte man mehr ohne Nebengedanken an die enthüllten Übergriffe von Klerikern. Im Sportgeschäft wurden Fenster mit Footballzubehör dekoriert. Sogar mehrere Meter vor einer Parfümerie duftete es.“ Oder: „Luxusläden in dieser Gegend. Die Türwache eines Juweliers begutachtete unmerklich Kunden, grüsste mit knappem Nicken. Was für ein Beruf. Natürlich viel besser als keiner. Edle Schuhe, seidene Sakkos, Roben und Fantasietrachten für Festspiele. Dazwischen Filialen von Nobelmarken, die weltweit zu finden waren. Die gleichen Schals von Hermès auf Lanzarote, hier und in Taschkent.“ Treffender lässt sich das Potpourri des modernen Lebens kaum beschreiben.
München ist, wie jeder weiss, eine gefragte Stadt. Zum Beispiel bei den Saudis. Glänzend, die Schilderung ihrer Ankunft in der bayerischen Metropole, ich habe Tränen gelacht. Der Gardasee ist ein weiterer Schauplatz – brillant die Schilderung des Unwetters, das den See heimsuchte. Und die Stadt Omsk: „Am Strassenrand Rentner, die Salatblätter verkaufen.“ Es versteht sich, da muss man nicht unbedingt hin, andererseits: „Die Fremde, das Fremde, wie faszinierend. Man verspürt sofort neue Kräfte, ist belebt.“ Überhaupt Russland: Mit westlichen Massstäben ist man da verloren.
Dann auch viel Geschichtliches, die Politik und das Betteln werden gestreift. „Der junge Mann mit dem Schild Ich habe Hunger, Danke hatte ein Sandwich neben sich liegen und wirkte kräftig (…) Das Gros des Bettelwesens war in Verruf geraten, schien zu durchgeplant zu sein. Mit den Almosen kauften sich Chefs, die man nie sah, in Bukarest ihren dritten Mercedes …“. Genauso absurd ist das Leben im 21sten Jahrhundert! Das ist ein Roman, kein dokumentarischer Bericht? Schon klar, nur eben immer mal wieder näher an der Realität als ein dokumentarischer Bericht, der ja, genau wie ein Roman, auch zuerst im Kopf des Dokumentaristen entsteht und nicht etwa die Welt abbildet, wie sie vorgefunden wird.
Was mich ganz besonders für diesen Roman einnimmt, sind die vielfältigen Einsichten, meist Randbemerkungen, die mich kurz innehalten lassen oder schmunzeln machen oder beides. Etwa zu König Maximilian II. Joseph. „Merkwürdig, dass Thomas Mann, der die Verbindung von Leiden und Sensibilität liebte, bei anderen, diesen König nicht in eine Erzählung eingebunden hat.“ Oder zum Übersetzen: „Das ist ja auch schön: Man hat etwas Fertiges unter den Fingern und darf es zu eigenen Zunge machen.“ Oder über das Mutter/Tochter-Verhältnis bzw. die Abhängigkeit: „Ihre Tochter studierte in Edinburgh, Kulturmanagement oder etwas Ähnliches, und meldete sich, wie Therese wusste, mehrmals täglich bei der Mutter. Auch kein gutes Zeichen.“
Fazit: Das Werk eines Könners. Gescheit, lehrreich, höchst unterhaltsam und sehr lustig. Grossartig, ein Lesevergnügen der Extraklasse!
Hans Pleschinski
Am Götterbaum
C.H. Beck, München 2021