Sahra Wagenknecht gehört zu wenigen Politikerinnen (Männer eingeschlossen), die ich ertrage, da ich mich von ihr nicht intellektuell beleidigt fühle (die meisten überbieten sich darin, sich anzubiedern, der Mehrheit nach dem Mund zu reden).
Dieses Buch, schreibt sie im Vorwort, ist „ein ausdrückliches Plädoyer für eine liberale, tolerante Linke anstelle jener illiberalen Denkströmung, die heute für viele das Label links besetzt.“ Die cancel culture sei an die Stelle einer fairen Auseinandersetzung getreten, behauptet sie und hat zweifellos Recht damit. Und dann zitiert sie Dantes Göttliche Komödie, wo „für diejenigen, die sich in Zeiten des Umbruchs ‚heraushalten‘, für die ‚Lauen‘, die unterste Stelle in der Hölle reserviert“ ist. Schon klar, ohne Selbstrechtfertigungen kommen wir alle nicht aus. Mir hingegen steht Paul Valéry näher: „Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“
Doch zum Buch: Unter dem überaus treffenden Titel „Moralisten ohne Mitgefühl“ stosse ich auf Ausführungen, die mich eine Reise in meine Jugend machen liessen, wo klar war, dass links zu sein bedeutete, für die Unterprivilegierten Partei zu nehmen und das gesellschaftliche Kernproblem die ungleiche Verteilung der Vermögen war. Heute hingegen verbinde ich mit links nichts als freudlose Rechthaberei, betrieben von selbstbezogenen Deppen (und Deppinnen), die sich über Fragen des sprachlichen Ausdrucks definieren.
Ich fand ja schon „Menschen mit Migrationshintergrund“ ziemlich bemüht, doch das neuerdings vom Berliner Senat eingeführte „Menschen mit internationaler Geschichte“ (Auslandsaufenthalt miteingerechnet?) übertrifft sogar mein (nicht unbeträchtliches) Vorstellungsvermögen. Mich erinnerte das auch an Norbert von Mecklenburgs Beispiel vom „berühmten ‚Seehundbaby Gottes‘ als zielkulturgerechtem Übersetzungsvorschlag für das ‚Lamm Gottes‘ in einer Bibel für Eskimos.“
Klar und differenziert beschreibt Sahra Wagenknecht in „Die gespaltene Gesellschaft und ihre Freunde“ das gesellschaftliche und politische Klima unserer Zeit. Ich wähnte mich oft im falschen Film und dachte immer wieder, absurder geht kaum, doch: „ … wächst die Zahl der Denkgebote und Benimmregeln in einem Tempo, bei dem Normalbürger – also Leute, die sich tagsüber mit anderen Dingen als mit diskursiver Awareness beschäftigen – keine Chance haben mitzuhalten.“ Mich lässt nur schon das Zur-Kenntnis-Nehmen dieses Irrsinns ziemlich erschöpft zurück. Soll ich mich wirklich mit solchen Fragen beschäftigen, mir also von Interessensgruppen mit 15 Mitgliedern Themen aufzwingen lassen, die mir meine Lebenszeit stehlen?
Wer in der Politik tätig ist, kommt scheinbar gar nicht drumherum, sich mit allerlei Schwachsinn auseinanderzusetzen. Sahra Wagenknecht tut es auf der Basis von Grundwerten wie Empathie, Anstand und common sense (der leider alles andere als common ist) sowie der Fähigkeit, Relevantes von gänzlich Irrelevantem zu unterscheiden. So notiert sie etwa, dass der einstigen CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer ein misslungener Karnevalsscherz über Unisex-Toiletten schadete, dass sie die Rüstungsausgaben (ganz im Sinne der Amerikaner) kräftig erhöhte, hingegen nicht. Am Rande: Ich teile beileibe nicht alle Einschätzungen der Autorin – so habe ich Null-Verständnis für Anti-Corona-Demonstrationen, aus welchen Gründen auch immer, denn die in einer Pandemie erforderlichen Massnahmen (Distanz, Maske, Hygiene) können so nicht gewährleistet werden. Mit einem Virus lässt sich nun mal nicht verhandeln.
Die Selbstgerechten bietet eine hellsichtige Analyse des gegenwärtigen politischen Geschehens – und natürlich fehlt auch der Blick auf die Geschichte nicht – und ist darüber hinaus ein überzeugendes Plädoyer gegen den entfesselten Kapitalismus, die eitle Nabelschau und für Mitmenschlichkeit. Den Nationalstaat („die einzige Instanz, die gegenwärtig in nennenswertem Umfang Marktergebnisse korrigiert, Einkommen umverteilt und soziale Absicherungen bereitstellt.“) sieht sie positiv, wirtschaftliche Zusammenarbeit und eine internationale Sicherheitsarchitektur befürwortet sie. Dass sie das Schweizer Wir-Gefühl auf die geringe Grösse des Landes und die starken partizipatorischen Elemente der Schweizer Demokratie zurückführt, halte ich hingegen nur für bedingt zutreffend; es ist meines Erachtens vor allem das Geld, welches das Land zusammenhält.
Die Selbstgerechten ist das Buch einer engagierten Politikerin, die sich für traditionelle Werte (klar doch, sie sieht sie durchaus differenziert) stark macht und sich von der Sehnsucht der Menschen nach Stabilität und Vertrautheit leiten lässt. Nur eben: Es gibt keine Stabilität, denn ausser dem Tod ist alles im Leben unsicher. Corona hat uns (zumindest einigen) dies wieder einmal bewusst gemacht. Es wäre vermutlich dem Menschen zuträglicher, er würde lernen, mit der Unsicherheit zu leben anstatt sich ständig um Sicherheit zu bemühen. Zugegeben, das ist eine andere Geschichte.
Gefallen hat mir insbesondere, dass ich immer wieder auf Sätze und Halbsätze stiess, meist Spitzen gegen Leute, deren Ideologie Sahra Wagenknecht nicht fremder sein könnte, die mich auf Wesentliches aufmerksam machten. Etwa, dass Bill Clinton (der Gatte der „Wall-Street-Kandidatin Hillary Clinton“) den Sozialhilfebezug auf lebenslang fünf Jahre begrenzte. Oder dass die deutsche Flüchtlingspolitik „mit enormem Aufwand den 10 Prozent der am wenigsten bedürftigen Flüchtlinge hilft.“ Oder dass Donald Trump „das Produkt der ohnmächtigen Wut über eine von der Wallstreet korrumpierte Politik“ war. „Die westlichen Demokratien funktionieren nicht mehr“, so ihr Befund.
Es gibt kaum ein gesellschaftspolitisches Thema, das Sahra Wagenknecht nicht behandelt. Überaus verdienstvoll ist, dass sie den gängigen Narrativ-Mantras wie Leistungsgesellschaft und innovativer Kapitalismus die Wirklichkeit entgegenhält. Enttäuschend fand ich hingegen, dass sie für einen funktionierenden Wettbewerb plädiert, denn Wettbewerb bedeutet zwangsläufig Gewinner und Verlierer – und das ist die Impuls-geleitete Weltsicht des Florida-Golfers.
Auch die Digitalisierung kommt zur Sprache, die üblichen Stimmen werden zitiert, unter ihnen Jaron Lanier, der behauptet, „Facebook und Co. gehe es um ‚die Entwicklung von suchterzeugenden und manipulativen Netzwerkdiensten‘.“ Ich kann kann mir nicht vorstellen, dass jemand daran zweifelt. Doch das Problem ist nicht Facebook und Co., das Problem ist, dass unsere ganze Gesellschaft auf Sucht aufbaut. Mehr-Mehr-Mehr, nie genug kriegen, das ist Sucht. Und diese ist der Motor unseres Wirtschaftssystems. Doch das wäre ein anderes Buch.
Fazit: Informativ, aufklärend und inspirierend.
Sahra Wagenknecht
Die Selbstgerechten
Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenarbeit
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2021