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Erste Schritte

Silvia Ferrara: Die grosse Erfindung

Ob man ein Buch mag, entscheidet sich oft auf den ersten Seiten. Nein, nicht immer. In diesem Falle jedoch, Silvia Ferraras Die grosse Erfindung, ist es so – ich bin sofort höchst angetan. Das liegt an der Art der Erzählens, dem Ton, so stelle ich mir vor. Und daran, dass die Autorin gleichsam bei Adam und Eva, und so recht eigentlich noch früher, anfängt und Kinderfragen stellt: „Wie entsteht eine Schrift?“ Gute Frage, sagt man, wenn man keine Antwort weiss, doch Silvia Ferrara, Professorin für ‚Ägäische Kulturen‘ an der Universität Bologna, verfügt über Antworten, jedenfalls über einige.

„Heute liegen uns ungefähr ein Dutzend alte Schriften vor, die wir nicht lesen und verstehen können. Sie warten immer noch auf ihre Entzifferung. Und fast alle werden in diesem Buch behandelt …“. Etwa die Rongorongo-Zeichen, die auf der Osterinsel vorgefunden wurden. Vier der 26 mit Rongorongo beschriebenen Holztafeln befinden sich übrigens in Rom. Wie kommt das? Und was tun sie da? Silvia Ferrara, die auch Projektleiterin des vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts INSCRIBE ist, das die Erfindung und die frühen Phasen der Schrift untersucht, klärt uns auf. Und auch darüber, dass die Forschung mit 3D-Modellen arbeitet, die es erlauben, „kohärente Abfolgen von Zeichen zu erkennen, aus denen wir Muster der Morphologie (also eine Grammatik) rekonstruieren und nachvollziehen können, ob Wiederholungen, Logogramme, Zahlwörter usf. auftauchen.“

Die grosse Erfindung ist nicht nur ein überaus lehrreiches Buch, es besticht auch dadurch, dass es sehr anschaulich auf Phänomene hinweist, die einen staunen machen. Wie kann das nur sein? Wie kommt das bloss? habe ich mich bei der Lektüre oft gefragt. Nehmen wir die Osterinsel, die über dreitausend Kilometer vor der chilenischen Küste im Pazifik liegt. Dass sie überhaupt entdeckt wurde, ist ein Wunder. Dass ihre natürliche Vegetation beseitigt wurde, überrascht hingegen weniger, denn so ist der Mensch. Und dass die Inselbewohner sich für den Nabel der Welt halten, erstaunt auch nicht, denn genauso denken die auf dem Festland und in den Bergen, ja so denkt man überall auf der Welt. Ein Wunder ist hingegen, dass eine Schrift, „etwas so Komplexes und Raffiniertes in der Einöde Rapa Nuis ersonnen wurde.“

Man merkt Silvia Ferrara die Begeisterung für das Schriften-Entziffern an. Im Gegensatz zu vielen Büchern von Akademikern, denen es vor allem darum geht, zu zeigen wie belesen, gebildet und schlau sie sind, ist dieses Buch von Neugier und Entdeckerfreude durchdrungen. Mir scheint dies die Grundhaltung der Autorin – nicht nur der Wissenschaft, sondern dem Leben gegenüber.

Die grosse Erfindung handelt auch vom Forschen und von den Forschern. „Der Forscher muss mobil, muss bereit sein, dem Strom zu folgen, sich den Fesseln der Stabilität zu entziehen. Diese Sichtweise ist subjektiv. Es gibt statische Forscher. Aber zumindest für mich sind Reise und Forschung Synonyme.“

„Wir haben ein verzweifeltes Bedürfnis nach Wurzeln.“, notiert Silvia Ferrara. Und dieses steht dem wirklichen Erkennen im Weg. Genauso wie die Aufmerksamkeit, die man etwa den Maoi, den kolossalen Steinstatuen der Osterinsel, schenkt und damit von den Petroglyphen ablenkt, den in Stein gearbeiteten Felsbildern. „Die Petroglyphen, als Halbrelief eingemeisselt oder aufgemalt, sind wohl die wahren Meisterwerke der Osterinsel.“

Die grosse Erfindung gehört zu den seltenen, sehr seltenen Büchern, die mich immer mal wieder innerlich jubeln lassen. Wegen solcher Sätze: „Man kann Wissenschaft und ihr Verhältnis zu allem anderen nur begreifen, wenn man sie als das grosse Abenteuer unserer Zeit auffasst und schätzt. Sie leben nicht in unserer Zeit, Wenn Sie nicht verstehen, dass sie ein ungeheures Abenteuer, etwas Kühnes, Erregendes ist.“ Richard Feynman, Nobelpreisträger für Physik, hat das gesagt. 1963 war das. Und es beschreibt genau, was Silvia Ferraras Schreiben vermittelt.

Sie schreibt überaus vergnüglich und widmet sich so recht eigentlich der Frage: Wie soll sich der Mensch um Himmels Willen auf dieser Welt zurecht finden? Kommt ganz drauf an, was für ein Typ Mensch man ist. „Die Welt ist in zwei Typen von Menschen unterteilt: in diejenigen, die Listen erstellen (was zu tun, einzukaufen, zu sehen, zu denken, zu unterlassen ist), und in die anderen, die sich dem verweigern.“ Sie selber gehört, wenig überraschend, zur ersten Kategorie und bezeichnet sich als Hardcore-Listomanin, die auch chiffrierte Listen mit Kürzeln anlegt, die anderen unverständlich sind. Übrigens: „Der Listomane schreibt ausschliesslich und rigoros von Hand: Listen am Computer zu erstellen ist wie bei Wikipedia recherchieren – nichts bleibt hängen, alles ist am nächsten Tag wieder vergessen.“

Damit etwas hängenbleibt, muss man es wiederholen. Ständig. Man denke etwa an den Ritus der Messe. „Damit ein Phänomen am Fliegenfänger der Kultur kleben bleibt, genügt keine zufällig verlaufende Übermittlung.“ Was für ein wunderbarer Satz! Genauigkeit ist übrigens nicht vonnöten, Attraktivität ist wichtiger.

Wie muss man sich die Erschaffung der Schrift eigentlich vorstellen? Setzen sich da ein paar Leute zusammen, definieren Ziel und Vorgehen? Sich durchwursteln sei keine Option in einem Business-Plan, meinte der letzte englische Gouverneur von Hongkong, Chris Patten, einmal. Aber eben eine Realität. Das gilt auch für die Entstehung der Schrift, die von zufälligen Aspekten geprägt ist, „die Listen, Modelle und zurechtgebogene Gleichungen in kein System bringen oder erklären können.“ Sinn erschliesst sich uns bekanntlich erst im Nachhinein.

Die grosse Erfindung gründet auf der Überzeugung, „dass der zündende Funke, der die Schrift entstehen liess, eine fulminante Entdeckung und eben keine Erfindung war, zumindest anfangs nicht.“ Darüber hinaus ist es reich an ganz vielfältigen Informationen, die deutlich machen, dass die Neugier von Schriftforschern (jedenfalls die von Silvia Ferrara) sich nicht auf das Entziffern von eigenartigen Zeichen beschränkt. So erfahre ich etwa, dass Tolstoi schreibsüchtig war, Diderot wegen eines neuen Hausmantels seine Garderobe und seinen Hausstand komplett erneuerte, und der laotische Analphabet Shong Lue Yang in einer Nacht des Jahres 1959 einen Traum hatte, in dem ihm eine Semisilbenschrift offenbart wurde.

Das Buch sei Andrea Zerbini gewidmet, auf den unter anderem der Satz zurückgeht: „Erkenntnis ist das Einzige, wofür wir leben.“ Und genau davon ist dieses wirklich tolle Buch geprägt, das einem bewusst macht, dass die Schrift reinste Magie ist. „Die Magie besteht darin, dass Sie sich in den Text von jemandem vertiefen, der nicht bei Ihnen ist, nicht mit Ihnen spricht und auch nicht antwortet.“

Fazit: Eine ganz wundervolle Einladung zum Staunen!

Silvia Ferrara
Die grosse Erfindung
Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften
C.H. Beck, München 2021

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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