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Erste Schritte

Frank Wilczek: Fundamentals

Physik gehört zu den Disziplinen, die mir unverständlich sind. Nichtsdestotrotz habe ich immer mal wieder einen neuen Anlauf gemacht, in diese Art zu denken reinzukommen – bislang verblüffend ergebnislos. Wär’s da nicht besser aufzugeben und zu akzeptieren, dass sich mir gewisse Wissensgebiete einfach nicht erschliessen? Gut möglich, doch da sich mein Handeln nur selten von meinem Denken leiten lässt – mein Denken ist meinem Handeln zumeist nachgeordnet – , mache ich mit Frank Wilczeks Fundamentals einen neuen Versuch, obwohl die Voraussetzungen ungünstiger nicht sein könnten, denn der Mann erhielt 2004 den Nobelpreis für Physik, bewegt sich also in mir unvertrauten geistigen Sphären. Doch gesagt gehört eben auch, dass ich einem anderen Nobelpreisträger für Physik, Richard Feinman, eine Erkenntnis verdanke, die mich seit vielen Jahren begleitet – „The first priciple is not to fool yourself. And you are the easiest person to fool.“ (Feinman bezog sich auf das wissenschaftliche Arbeiten; ich selber nehme es als Lebensanweisung) – , und ich bereits im Vorwort von Fundamentals auf Gedanken stosse, die sich mir einprägen.

Als Babys lernen wir, „dass sich die Welt in ein Selbst und ein Nicht-Selbst spaltet, dass Gedanken die Bewegungen des Selbst, nicht aber die des Nicht-Selbst zu steuern vermögen und dass wir Dinge betrachten können, ohne ihre Eigenschaften zu verändern.“ Dieses Modell der Welt befähigt uns, in der Alltagswelt zurechtzukommen. Um die physikalische Welt, die die moderne Wissenschaft offenbart, zu verstehen, müssen wir allerdings einige Dinge verlernen. Etwa dass man nicht beobachten kann, ohne das Beobachtete zu verändern. Oder dass die meisten Handlungen nicht vom Bewusstsein, sondern vom Unbewussten gesteuert werden.

Wir leben in einer Illusion. „In unserer Eile, die Dinge zu verstehen, lernen wir als Kleinkinder die Welt und uns selbst misszuverstehen. Auf dem Weg zu einem tiefen Verständnis gibt es viel zu verlernen und viel zu lernen.“ Davon handelt dieses wirklich sehr gut geschriebene Buch.

Unser Hirn ist falsch eingestellt, so verstehe ich die Zen Buddhisten. Tauglich ist es für unseren Alltag, darüber hinaus steht es uns hingegen im Weg. So verstehe ich auch Frank Wilczek, der die Unterteilung der Welt in eine innere und eine äussere für zwar brauchbar, aber oberflächlich hält. „Doch unser wissenschaftliches Verständnis besagt, dass es nur eine Welt gibt.“

„Die wissenschaftliche Darstellung der physischen Welt ist eine Bestandesaufnahme dessen, was sich möglicherweise beobachten lässt.“ Man sollte diesen Satz nicht überlesen, sondern innehalten und bedenken. Er besagt unter anderem, „wie arm die natürliche menschliche Wahrnehmung ist, verglichen mit der Realität.“ Man denke etwa daran, was wir mittels eines Mikroskops zu sehen imstande sind. Oder man betrachte die Details einer Pflanze, die wir mit einer Kamera heranzoomen.

Fundamentals ist in zwei grössere Kapitel gegliedert – mit Was es gibt, ist das eine überschrieben; mit Anfänge und Enden das andere. Die Unterteilung von Was es gibt zeigt die Hauptelemente auf: 1) Es gibt viel Raum, 2) Es gibt viel Zeit; 3) Es gibt nur wenige Bausteine; 4) Es gibt nur wenige Gesetze; 5) Es gibt viel Materie und Energie. Ich jubelte innerlich auf, als ich diese Einteilung, die mir Beweis dafür ist, dass die Komplexität auf wenig Fundamentales reduziert werden kann, zur Kenntnis nahm, denn mir steht der Universalismus wesentlich näher als der Regionalismus bzw. der Relativismus.

Die Welt funktioniert gemäss vier (trügerisch) einfacher Prinzipien. 1) Die physikalischen Grundgesetze beschreiben Veränderungen. „Die Zustände beschreiben, ‚was es gibt‘, die Gesetze ‚wie sich die Dinge verändern‘.“ 2) Die physikalischen Grundlagen sind universell. 3) Die physikalischen Grundlagen manifestieren sich lokal. 4) Die physikalischen Grundlagen sind präzise.

Nie war mir deutlicher (klar doch, irgendwie wusste ich es zwar, aber eben nur irgendwie), dass physikalische Grundgesetze mein Dasein bestimmen. Aufgegangen ist mir das unter anderem am Beispiel der Zeit. „Die Beobachtung, dass es ein gemeinsames, universelles Tempo gibt, ist eine tiefgreifende Erkenntnis über die Art und Weise, wie die physikalische Welt funktioniert.“ So entwickeln sich etwa Säuglinge weltweit „ungefähr nach dem gleichen Zeitplan und beginnen nach einer bestimmten Anzahl von Monaten zu laufen, zu sprechen und andere Fähigkeiten an den Tag zu legen.“ Auch im gemeinsamen Musizieren, bei dem alle Beteiligten synchron agieren müssen, zeigt sich, „dass wir eine gemeinsame sehr präzise Vorstellung davon haben, wie die Zeit vergeht.“

Sind wir also willenlose Maschinen, Gesetzen ausgeliefert, die wir nicht bzw. nur unzureichend verstehen? Frank Wilczek argumentiert: „Der freie Wille und der physikalische Determinismus sind komplementäre Aspekte der Realität.“ Und fügt hinzu: „In Komplementaritäten zu denken heisst auch, Distanz zu wahren.“ Das meint: Absolute Wahrheiten sind nicht zu haben. Und es meint auch: Aus der Distanz lassen sich harmonische Muster erkennen, von denen wir uns leiten lassen sollten.

Die Wissenschaft lehrt uns, dass unsere Welterfahrung – das Sich-Abgetrennt-Fühlen von allem anderen – , in den Worten von Albert Einstein, „eine Art optische Täuschung des Bewusstseins“ ist, also eine Art Gefängnis, „das uns auf unsere eigenen Wünsche und auf die Zuneigung zu wenigen uns Nahestehenden beschränkt. Unser Ziel muss es sein, uns aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir den Kreis unseres Mitgefühls erweitern, bis er alle lebenden Wesen und die gesamte Natur in all ihrer Schönheit umfasst.“

Fundamentals ist ein ausgesprochen hilfreiches Buch.

Frank Wilczek
Fundamentals
Die zehn Prinzipien der modernen Physik
C.H. Beck, München 2021

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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