Das Leben geht eigenartige Wege, was uns jedoch meistens nicht auffällt, da wir routinemässig beschäftigt sind. Jedenfalls: Auf Laura Lippman bin ich durch Paula Hawkins gestossen, die sie im Londoner ‚Guardian‘ lobend erwähnte. Ich habe von Paula Hawkins noch nie etwas gelesen, weshalb sollte ich also auf Ihre Empfehlung hören? Keine Ahnung, mein Hirn hat so seine eigenen Wege … und das ist gut so. Wäre ich nämlich auf meine mir bewusste Logik angewiesen, wäre mir Wenn niemand nach dir sucht wohl entgangen – und das hätte ich bedauert.
Maddie Schwartz hat sich gerade von ihrem Mann getrennt, beginnt eine Affäre mit einem schwarzen Cop, was in der damaligen Zeit nicht nur höchst ungewöhnlich, sondern illegal war, schreibt für den ‚Baltimore Star‘, stösst auf eine Leiche … doch nein, ich mag hier nicht nacherzählen, worum es in dieser Geschichte geht, denn das erinnert mich zu sehr an Bildbeschreibungen in der Schule … nichts, das ich langweiliger gefunden habe … Und überhaupt: Es ist sowieso weniger die Geschichte (der rote Faden ist der Tod einer jungen farbigen Frau, in dem Maddie die Story ihres Lebens wittert), als der Ton, der darüber entscheidet, ob man Zugang zu einem Text findet, und dieser lässt sich nun einmal schlecht beschreiben, weshalb denn auch, zur Illustration, nachfolgend eine paar kurze Auszüge folgen sollen …
Stephen King hat zu diesem Roman gemeint: „Laura Lippman zeigt, was Frauen in den 1960er Jahren zu sein hatte und was sie sein sollten …“. Das trifft es gut. Dazu kommt, dass die Geschehnisse aus sehr verschiedenen Perspektiven geschildert werden und ganz unterschiedlichen Personen, nicht nur Frauen, auch Männern, eine Stimme gegeben wird. Es sind erfrischende, eigenständige, witzige, unverblümte Stimmen. „Milton neigte zum Namedropping und war gerade einfältig genug, um beeindruckt zu sein, wenn ein Fernsehpromi Tennis mit ihm spielte, selbst wenn es einer war, den man wegen seines unverkennbaren Baritons Mittagsnebel nannte.“
Die 1960er waren eine Zeit der Emanzipation. Dass diese für Mädchen/Frauen um einiges schwieriger war als für Jungen, zeigt Laura Lippman meisterhaft. Ein jüdisches junges Mädchen hat zu Hause zu wohnen, befanden etwa die Eltern. Also mussten sich junge jüdische Mädchen etwas einfallen lassen – und das taten einige von ihnen auch. „Welche Einwände haben meine Eltern? Kosten. (Also habe ich den Job angenommen und arbeite in Jacks Juweliergeschäft, obwohl ich überhaupt keinerlei Hang zum Einzelhandel habe – all die Lügerei und das Beschwatzen.)“ Treffender kann man den Einzelhandel kaum beschreiben. Überhaupt ist Wenn niemand nach dir sucht reich an smarten Beobachtungen. „Der Mann besass keine echte Autorität, erkannte Maddie. Wie das an ihm nagen musste.“
Eine der Figuren dieses Romans ist Tessie Fine. Sie ist eigenwillig, rechthaberisch, intelligent und verfügt über einen ganz wunderbaren Witz. „Bescheidenheit ist für Leute, die nicht das Glück haben, etwas zu besitzen, worauf sie stolz sein können.“ Auch weiss sie sich zu wehren. „Das Schöne an der Tora ist, dass man darin immer genau das findet, um einen Streit zu gewinnen.“ Andere Figuren sind ein Streifenpolizist, ein Kolumnist („Angeblich soll es ja ein Zeichen der Ehre sein, wenn man über dem Alltagsgetümmel steht, sich klug über die Dinge auslassen darf oder diese kurzen Sketche über das eigene Leben schreibt.“) und und und …. sie erzählen zu hören erlaubt es, jeweils in ganz verschiedene Welten einzutauchen. Die Autorin weiss diese Welten ausgesprochen sehr lebendig zu schildern.
Insbesondere ihre Schilderungen aus der Welt des Journalismus haben es mir angetan. Kein Wunder, denn Laura Lippman hat Journalismus studiert (ich auch) und zwanzig Jahre in diesem Beruf gearbeitet (ich nicht). „Einer der uninteressantesten Typen, die mir je begegnet sind. Von der Sorte gibt’s bei Zeitungen mehr, als man so denkt.“ Treffend charakterisiert sie die Vorgehensweise der Journalisten. „Interesse an ihr vortäuschen, Empathie heucheln, all das vorgebend, was er vorgeben musste, um zu bekommen, was er wollte.“
Gute Bücher – und Wenn niemand nach dir sucht ist ein gutes Buch – zeichnen sich unter anderem dadurch aus (jedenfalls für mich), dass einem ein paar Gedanken davon bleiben. Einer von diesen ist diese Überlegung einer Polizistin: „In gewisser Hinsicht war ich mehr Sozialarbeiterin als Polizistin. Aber ich glaube, ich habe mehr erreicht als die Sozialarbeiter. Wenn eine Sozialarbeiterin in ein Haus kommt, ist sie der Feind, jemand, der sich einmischt. Wenn ich vorbeikam – normalerweise, weil irgendwer Trunkenheit oder Ruhestörung gemeldet hatte – , empfingen mich die Mütter insgeheim mit offenen Armen.“
Fazit: Clever, unterhaltsam und vielfältig aufklärend.
Laura Lippman
Wenn niemand nach dir sucht
Kampa, Zürich 2021