Dieses Buch beginnt wie ein Thriller. Die Küste von New Jersey. Sommer 1916. Ein Hai greift an … Und was, so werden sich einige vermutlich fragen, hat das mit Pandemien zu tun? Es gibt viele Zusammenhänge, die wir uns weigern zu sehen. Weil wir in Gewohnheiten gefangen sind, es uns nicht gegeben ist, über den Tellerrand zu schauen. „ … denn genauso, wie sich die meisten Biologen keinen Haiangriff in den kalten Gewässern des Nordatlantiks vorstellen konnten, konnten sich die meisten Experten für Infektionskrankheiten im Sommer 2014 nicht vorstellen, dass Ebola, ein Virus, dessen Vorkommen sich zuvor auf abgelegene Waldregionen in Zentralafrika beschränkt hatte, eine Epidemie in einer Grossstadt in Sierra Leone oder Liberia auslösen könnte, noch viel weniger jenseits des Atlantik, in Europa oder den Vereinigten Staaten.“
Das Aufschlussreichste, das ich bislang über Pandemien gelernt habe, stammt von Medizinhistorikern, zu denen auch Mark Honigsbaum gehört. Das hat wesentlich damit zu tun, dass bei ihnen die Aufgeregtheiten des Tages nicht überhand nehmen, sondern im weiteren Zusammenhang gesehen werden. Und so wird (wieder einmal) deutlich, dass der Mensch es vorzieht, die Dinge nicht zu sehen, wie sie sind, sondern wie er sie gerne hätte. Dass man die Ruhe bewahren soll in Zeiten von Krisen, ist einleuchtend, doch dass abzuwarten und nichts (oder das Gewohnte) zu tun, auch ein fatales Signal sein kann, wird dabei oft übersehen.
Um die 50 Millionen Leben kostete die Spanische Grippe (so genannt, weil Spanien das einzige Land war, das Berichte über die sich zwischen Sommer 1918 und Frühjahr 1919 ausbreitende Epidemie nicht zensierte), die wohl hauptsächlich auf „die Konzentration von Rekruten aus ländlichen und städtischen Distrikten in engen und überfüllten Baracken“ zurückzuführen war. Das Verblüffende dabei: „Zwei Drittel der Bevölkerung hatte sich gar nicht angesteckt, und die Mortalität, auf die Gesamtpopulation bezogen, hatte nur 2 Prozent betragen.“ Da die Influenza sich nach dem Krieg schnell zu einem saisonalen Leiden entwickelte, war sie schon bald vergessen.
Anhand der Lungenpest, die Los Angeles 1924 heimsuchte, erläutert Mark Honigsbaum, woran der Umgang mit Pandemien auch heute noch krankt: Zu viele Einzelinteressen versuchen sich (leider mit Erfolg) Gehör zu verschaffen, obwohl aus epidemiologischer Sicht so recht eigentlich klar ist, was zu tun wäre: schnelles Handeln, sofortige Quarantäne, rasche Isolierung der Kranken, Hygiene, Distanz. Nur eben: Es wird nicht getan, denn die Pandemie-Bekämpfung geniesst bei den meisten keine Priorität.
Dass man einer Pandemie überhaupt auf die Spur kommt, ist alles andere als selbstverständlich. Als Beispiel soll die Geschichte der Papageienkrankheits-Pandemie dienen: Ein Arzt in Annapolis, Maryland, vermutet bei einer Familie zuerst eine Lungenentzündung und möglicherweise Typhus. Als er zuhause seiner Frau davon erzählt, weist diese ihn auf einen Zeitungsartikel über ein Theater in Buenos Aires hin, wo die Papageienkrankheit ausgebrochen war. Der Arzt wird hellhörig, stellt Nachforschungen an. Diese fruchteten anfänglich nichts (von der Papageienkrankheit hatten die zuständigen Fachleute noch nie gehört), bis dann doch … Es sind solche Geschichten, die dieses Buch zu einer überaus spannenden Lektüre machen.
Zudem gibt es die Schilderungen von Forscher-Typen, die, wie Honigsbaum schreibt, „aus der heutigen amerikanischen Medizin so gut wie verschwunden sind, wie etwa Charlie Armstrong, „der sich mit Malaria, Denguefieber, Enzephalities, Q-Fieber und Tularämie“ infizierte, 1950 pensioniert wurde und auf die Reporter-Frage, wie man sich Influenza vorstellen müsse, antwortete: „Wenn man Influenza hat, dann glaubt man, dass man bald sterben wird, und hat Angst, dass es nicht so ist.“
Was mich fast am meisten überrascht hat, ist die ungeheuere Macht der Gewohnheit und unser schlechtes Gedächtnis. So sieht man heutzutage AIDS weitestgehend als lediglich eine weitere Infektionskrankheit, obwohl die frühen Patienten (das liegt nicht mehr als rund vierzig Jahre zurück) aussahen „wie die Überlebenden eines Konzentrationslagers. Vergrössert wurde diese Bestürzung dadurch, dass die Ursachen der Erkrankung ‚völlig unbekannt‘ waren.“ Insgesamt sind rund 40 Millionen daran gestorben. Und wer, ausser den Fachleuten und den Betroffenen, erinnert sich eigentlich noch an Zika?
Das Jahrhundert der Pandemien bietet überaus aufschlussreiche Aufklärung. Staunen machten mich insbesondere die Ausführungen über die Legionärskrankheit, auf die man überdies verblüffend ähnlich reagierte wie auf Covid-19: Die Behörden reagierten panisch, schnell war ein Impfstoff gefunden, und fast ebenso schnell wollten sich (in diesem Fall: grosse) Teile der Bevölkerung nicht impfen lassen. Die Gleichgültigkeit, Ignoranz und Rücksichtslosigkeit allzu vieler, der auch viele Ärzte und Pflegekräfte zum Opfer fallen, ist erschütternd und macht wütend. Es ist nicht zuletzt das Verdienst Mark Honigsbaums, dass wir, um ein Beispiel zu nehmen, von der Ärztin am First Consultant Hospital in Lagos erfahren (sie wurde in der Folge selber krank und starb), deren schnelle Reaktion es zu verdanken war, dass ein Ebola-Ausbruch sich nicht weiter verbreitete,
Das Jahrhundert der Pandemien erzählt nicht nur detailreich von den verschiedensten Ansteckungen und wie kulturelle, soziale und kulturelle Faktoren sowie neue Technologien ihre Ausbreitung begünstigen, sondern klärt auch darüber auf, wie Mediziner und Epidemiologen arbeiten. Spannender und faszinierender bin ich selten aufgeklärt worden.
Mark Honigsbaum
Das Jahrhundert der Pandemien
Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19
Piper, München 2021