Dies ist Daniel Schreibers Grundhaltung „Ich glaubte, dass sich so gut wie alle Probleme lösen liessen, wenn man sich nur genug Mühe gab, sich Hilfe suchte, die richtigen Schritte unternahm, sich engagierte.“ Und sie zieht sich durchs ganze Buch. Man müsse auch lernen mit ungelösten Problemen zu leben, ermahnte ihn ein Bekannter. „Vielleicht verstand ich erst jetzt, unter dem Eindruck der Pandemie, was er damit meinte.“
Allein ist während der Pandemie entstanden. Es ist eine Zeit, in der niemand richtig versteht, was passiert, und schon gar nicht, wie es weitergehen wird. Für einige, unter ihnen der Autor, ist sie auch Anlass zu einer Nabelschau, einer sensiblen und sehr intensiven. Kaum etwas, das er nicht hinterfragt und analysiert; er quält sich, genügt sich nicht, zweifelt, ob er überhaupt liebenswert sei. Daniel Schreiber ist auf der Suche nach Antworten, doch mehr als Einsichten sind selten zu haben. Allein ist auch ein Buch darüber, dass Einsichten wenig helfen, ich bezweifle jedoch, dass der Autor diese Einschätzung teilt.
Daniel Schreiber lebt offenbar mit Bildern im Kopf, von denen er sich emotional nicht wirklich lösen kann: Das Leben als Paar ist normal, Zweisamkeit ist besser als Alleinsein. Sein Verstand weiss, dass das Unsinn ist, sein Gefühl sagt was anderes. Und gegen Letzteres kommt der Verstand nicht an. „Das Schwierigste ist der Abschied von all den Fantasien, die man für sein Leben hatte, den vielen selbstverständlichen Vorstellungen. Man betrauert ein Lebensmodell, das einem nicht nur überall vorgelebt wird, sondern das man auch selbst verinnerlicht hat.“ Ich selber hatte nie solch idealisierte Vorstellungen von Zweisamkeit. Im Gegenteil: Ich kenne kein einziges Paar, das ich um seinen Alltag beneiden würde.
Allein beschreibt eine Welt, in der die grossen Erzählungen wie etwa die der Politik und der Philosophie nicht mehr greifen und wir uns gerade auch von der Erzählung der Liebe verabschieden. Wobei, Daniel Schreiber formuliert das vorsichtig. „Viele von uns haben sich freiwillig oder unfreiwillig von der grossen Erzählung der Liebe verabschiedet, obwohl wir vielleicht immer noch an sie glauben.“ Ich teile diese Einschätzung nicht, gehe davon aus, dass die Vorstellung der romantischen Liebe, mit der wir seit frühester Jugend vertraut sind, uns bis ans Lebensende begleiten wird. Sie wird mit der Zeit wohl weniger heftig, doch sie verschwindet nicht, denn emotional bleibt der Mensch ein Leben lang in der Pubertät stecken. Ich soll nicht von mir auf andere schliessen? Ich tue es aber – und denke nicht, dass ich eine Ausnahme bin.
Allein ist ein Buch darüber, wie sich der Autor fühlt, was er denkt, womit er sich beschäftigt und auseinandersetzt. Es handelt von Beziehungen und Freundschaften und was mit einem passieren kann, wenn man nicht in den gesellschaftlich erwarteten Formen unterwegs ist. Er berichtet von Selbstzweifeln, Depressionen, finanzieller Unsicherheit, vom Wandern und Spazieren, vom Stricken, von ganz unterschiedlichen Büchern, die ihm (zum Teil banale, wie ich finde, zum Teil höchst aufschlussreiche) Einsichten verschafft haben. Er erzählt von seinem Schwulsein, der queeren Scham, Selbsthilfegruppen, Sitzungen bei der Psychoanalytikerin, Yoga, von Pflanzen, vom Gärtnern, von Aids, dem Klima, Fuerteventura, Berlin, Luzern. Und und und … Was der Mann nicht alles ausprobiert! Auf mich wirkte das alles etwas too much – loslassen scheint ihm fremd.
Gut geschrieben, konventionell klug, reich an vielfältigen und differenzierten Überlegungen, die mich jedoch selten überrascht haben, denn das Denken des Autors bewegt sich etwas arg oft in Wenn-Dann-Kategorien. Nachhaltiges freundschaftliches Glück, behauptet er etwa, stelle sich ein, wenn es gelinge „unser Gegenüber in seiner Andersartigkeit erkennen. Wenn wir uns seiner oder ihrer emotionalen Realität öffnen, seinem oder ihrem anderen Blick auf die Welt. Es kommt auf, wenn wir jemand anderen glücklich machen.“ Das leuchtet zwar ein, klingt jedoch etwas arg idealistisch.
Das Alleinsein kommt für mich zu kurz – der grösste Teil handelt von Freundschaften, Beziehungen im allgemeinen, des Autors Verhältnis zu anderen – , was mich etwas enttäuschte, denn allein sein zu können, ist für mich erstrebenswert. Darüber hätte ich gerne mehr erfahren: „Schon die christlichen Mystiker hiessen Einsamkeitserfahrungen willkommen, sie vermittelten ihnen eine besondere Nähe zu ihrem Gott.“
Es klinge vielleicht etwas blöd, sagte mir einmal ein von mir sehr geschätzter Freund, doch so recht eigentlich sei er sich selber sein bester Freund. Eine überaus hilfreiche Anregung, wie ich finde.
Daniel Schreiber
Allein
Hanser Berlin 2021