Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Erste Schritte

Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere

Will man das Virus bekämpfen oder das System (Föderalismus, Gesundheitswesen) schützen?, war die Frage, die sich zu Beginn der Covid-19 Pandemie stellte. Die Priorität hatte der Systemschutz. Das war ein instinktiver und nicht etwa ein rationaler Entscheid, denn uns Menschen – das Unvertraute (das Virus) ängstigt uns – geht es vorrangig immer um Sicherheit, also um die Bewahrung von dem, was wir kennen. Wäre unser System wirklich so gut (und wir selber so kompetent und sachlich), wie wir annehmen, hätte das möglicherweise sogar funktionieren können. Doch das hat es nicht, denn ein Virus weiss nichts vom Föderalismus.

„Krankheitserreger, die weltweite Pandemien auslösen, sind blinde Passagiere.“ So lautet der erste Satz dieses fachübergreifenden Werkes. Es ist ein Satz, der einen innehalten lassen sollte – auf dass sich einem die Brisanz erschliessen möge, die sich darin versteckt: blinde Passagiere bemerkt man nicht, sie reisen gleichwohl mit.

Bereits nach den ersten fünfzig Seiten dieses insgesamt 500 Seiten zählenden Werkes ist mir klar, dass ich es hier mit differenzierter, sachlicher Aufklärung zu tun habe, die sich dadurch auszeichnet, dass sie über das weltweite Geschehen informiert und Zusammenhänge aufzeigt, die unsere Impulshandlungen künftig (hoffentlich) in ihre Schranken zu weisen vermag. So führte etwa die MERS-Pandemie von 2012 zu einem internationalen Forschungsverbund, zu dem auch Labore in Wuhan und Bellinzona gehören. „Auch wenn die Hypothese einer natürlichen zoonotischen Übertragung alle wesentlichen Argumente auf ihrer Seite hat, sollte die Möglichkeit einer unbeabsichtigten Freisetzung einer Genomvariante des Virus aus den Forschungslabors von Wuhan, Bellinzona, Chapel Hill und Boston weiterdiskutiert werden.“ Und zur Gates-Dämonisierung merkt der 1942 geborene Autor, der sowohl in Medizin als auch in Geschichte promovierte, an, dass US-amerikanische Grossstiftungen bei der Internationalisierung des Public Health und der internationalen Seuchenhygiene traditionell eine entscheidende Rolle spielen und die 1946 gegründeten Centers for Disease Control und die National Institutes of Health schon lange weitgehend von Stiftungen gesteuert werden.

Wir leben in Zeiten der Profitmaximierung und da erstaunt es wenig, dass die nationalen Pandemiepläne sich auch an den Begehrlichkeiten der Pharmaindustrie, deren Vertreter in der WHO über Einfluss verfügen, orientieren. Gekoppelt mit der uns Menschen eigenen Tendenz, möglichst nichts zu ändern (ausser man muss), ist die Fixierung auf kurzfristige Gewinne so recht eigentlich ein Rezept für den Untergang. Weder wurden bei Pandemie-Planspielen die „im Just-in-time getakteten Verteilungskreisläufe der Pharmagrosshändler und Apotheken“ noch der „aus Kostengründen forcierte Abbau der Krankenhauskapazitäten“ angetastet. Dass die Sicherheit eines Systems zu garantieren, nicht bedeutet, nur ja nichts zu ändern, werden vermutlich viele theoretisch anerkennen, verhalten werden sie sich trotzdem nicht entsprechend. Der Mensch mag potentiell vernunftbegabt sein, im praktischen Leben ist er es nicht.

Dass es Menschen gibt, die durchaus sehen, was in einer Pandemie auf uns zukommen kann, zeigt dieses Buch an zahlreichen Beispielen. Und manchmal kann man kaum glauben (zugegeben, ich spreche von mir), was man da liest: So wurde etwa im Oktober 2019 in New York ein Pandemie-Szenario durchgespielt, das Regierungen auf einen möglichen Pandemiefall vorbereiten sollte. „In diesem Sinne veröffentlichten das World Economic Forum, die Bill & Melinda Gates Foundation und das Center for Health Security am 17. Januar 2020 eine Sieben-Punkte-Erklärung, in der sie die Zielstellungen des ‚Event 201‘ nochmals zusammenfassten (…) Aber auch diese Warnrufe verhallten ungehört.“

Karl Heinz Roth bezeichnet das Unterbleiben von Vorsorgemassnahmen als grosses Rätsel und meint, es liege zum Teil an den Pandemie-Planspielen, die auf Worst-Case-Szenarien ausgerichtet gewesen seien statt auf „variierende und vor allem ’nur‘ mittelschwere Pandemiekonstellationen“ sowie auf den Rückbau des öffentlichen Gesundheitswesens. Der zweite Grund scheint mir plausibel, der erste nicht, denn auch der adäquat informierte Mensch wird sich ausgesprochen dumm verhalten, wenn seine Gewohnheiten (von denen er partout nicht lassen will, wie auch der Klimawandel zeigt) davon betroffen sind.

Blinde Passagiere zeichnet die Ausbreitung von Covid-19 umfassender nach als die mir bisher bekannten Werke. So war mir nicht geläufig, dass der Iran und Ägypten „eine wichtige Rolle bei der Beschleunigung des Gesamtprozesses gespielt haben.“ Dabei gilt sich vor Augen zu halten (was der Autor tut), dass die Informationen, die hier vorgelegt werden, bestenfalls Annäherungen an das wirkliche Geschehen sind. So erinnere ich mich an einen Fernsehbeitrag über die Situation in Malawi, wo viele Menschen Krankenhäuser meiden, die sie mit ‚White Voodoo‘ bezeichnen, und es vorziehen, zuhause zu sterben – woran weiss niemand.

Unter den wichtigsten Merkmalen der Pandemie führt Karl Heinz Roth auch die unterschwellige Ausbreitung des Virus an. „Wenn mehr als die Hälfte der Infizierten keine relevanten Krankheitssymptome entwickelt, ist es unmöglich, das tatsächliche Ausmass der Durchseuchung einer Gesellschaft zu erkennen.“ Es sind unter anderem solche Informationen, von denen man sich wünschte, sie wären allgemeiner bekannt bzw. sie würden uns leiten.

Die Suche nach pharmakologischen Substanzen mittels derer die Ausbreitung des Virus im menschlichen Körper zu stoppen und Organschäden zu verhindern wären, lief auf Hochtouren. Eines der Mittel, das eine Zeitlang Aufsehen erregte, war Remdesivir, für das der Hersteller, Gilead Sciences, von den US-Sozialkassen 390 US-Dollar und von Privatkrankenkassen 520 US-Dollar pro Ampulle wollte. Wie kommt man bei einem Gestehungspreis von 0,93 Dollar, was pro Behandlungsfall einen Gesamtaufwand von 10 Dollar ausmacht, auf solche Beträge? „Begründet wurde diese horrende Forderung mit einer Gegenrechnung der durch die Anwendung eingesparten Krankenhauskosten – ein in der Pharmaindustrie seit einigen Jahrzehnten übliches Verfahren.“ Ein übliches Verfahren? Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus …

Karl Heinz Roth setzt sich in diesem Werk mit so ziemlich allen denkbaren Aspekten der Coronoakrise auseinander. Den Lockdowns, die vor allem geschadet, doch kaum (wenn überhaupt) etwas gegen die Ausbreitung des Virus genützt haben, so sie wirkten als Beschleuniger der Automatisierung wie auch der Digitalisierung. Dem grösser gewordenen Reich/Arm-Gefälle. Den Medien-Intellektuellen, die vor allem dann reüssierten, wenn sie die herrschende Panik noch verstärkten. Den Impfgegnern, die es schon immer gegeben hat. Dem globalen Gesundheitswesen, das von den Gesetzen des Marktes regiert wird. Und und und …

Blinde Passagiere zeigt anhand der Coronakrise wie „unser“ Profit-System funktioniert und macht unter anderem deutlich, dass die Gegenmassnahmen in Asien, Europa, den USA und Lateinamerika sich zum Teil beträchtlich voneinander unterschieden. Dass man voneinander lernen kann, mag in der Wissenschaft vorkommen, in der Politik (der Durchsetzung von eigensüchtigen Interessen) hingegen eher nicht, weshalb denn auch Hegel gemeint hat, aus der Geschichte liesse sich nur lernen, dass man nichts aus ihr lerne. Doch da alles sich ständig ändert, besteht auch die Chance, dass unsere Prioritäten sich ändern könnten.

Fazit: Eine enorme Fleissarbeit und ein überzeugendes Grundlagenwerk, das so ziemlich alles berücksichtigt, was analysiert gehört, um künftig angemessen auf Pandemien reagieren zu können.

Karl Heinz Roth
Blinde Passagiere
Die Coronakrise und die Folgen
Kunstmann, München 2022

Werbung

Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

Kommentar hinterlassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: