Dieses 1994 erschienene, 2019 überarbeitete und aktualisierte, nunmehr in der 6. Auflage vorliegende Werk ist der „erste Versuch einer deutschsprachigen Gesamtdarstellung aus der Feder eines Nicht-Ukrainers“, informiert Andreas Kappeler, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen und der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, in seiner Einleitung. Sein Anliegen ist es, „der im Westen vorherrschenden russozentrischen Optik, die die Ukraine (wenn überhaupt) nur als Randgebiet Russlands zur Kenntnis nimmt, eine ukrainische Perspektive entgegenzusetzen.“
Von der Ukraine weiss ich gerade einmal, dass sie die Kornkammer der Sowjetunion gewesen ist und dass Odessa am Schwarzen Meer liegt. Die Orange Revolution habe ich nicht wirklich wahrgenommen, dass da ein Komiker zum Präsidenten wurde, war mir zwar bekannt, und ebenso, dass er vom ehemaligen amerikanischen Präsidenten erpresst wurde, doch das war’s dann auch schon. Mit anderen Worten: Für jemanden wie mich, der nur sehr vage Vorstellungen von diesem Land hat, ist diese Kleine Geschichte der Ukraine überaus nützlich.
Offenbar war/ist auch für andere die Ukraine eine Art terra incognita. „Das plötzliche Auftreten der Ukraine in der europäischen Politik kam für den Westen überraschend.“ Das verblüfft mich, offenbar sind Politiker noch weniger auf dem Laufenden als ich gedacht habe, denn mit 45 Millionen hat das Land ungefähr gleich viele Einwohner wie Spanien, zudem ist es hinter Russland der territorial zweitgrösste Staat Europas. Laut Kappeler liefert die Geschichte darauf Antworten – bis heute hat eine wirkliche Nationsbildung der Ukrainer nicht stattgefunden; überdies fühlten sich Russen und Polen „dem sogenannten unhistorischen Bauernvolk“ gegenüber traditionell überlegen.
Wie jedes Land, so wird auch die Ukraine wesentlich von seiner Topografie definiert. „Die Lage am Steppenrand ist denn auch ein Grundelement der ukrainischen Geschichte, das manifest wurde sowohl in ständigen Einfällen der Reiternomaden wie in der Vermittlung zwischen Sesshaften und Reiternomaden, zwischen slawisch-christlicher und turko-tatarischer islamischer Welt.“ Und wie in jedem anderen Land auch, spielt die Frage der nationalen Identität eine wichtige Rolle. „Für Russland und die Russen war die ukrainische Frage eng mit dem bis heute nicht gelösten Problem der russischen nationalen Identität verknüpft: Ist es der Staat, das Imperium, oder ist es die Sprache, ist es der orthodoxe Glaube, oder ist es die slawische Kulturgemeinschaft, die die russische Nation ausmacht?“
Schon eigenartig, mit was für Fragen sich der Mensch beschäftigt! Dieser Mensch, der weder weiss, woher er kommt, noch wohin er geht, geschweige denn, was er hier auf Erden tun soll. Dass er nichts weiter als ein Geschöpf ist, dem ein temporärer Aufenthalt auf dem Planeten Erde gewährt wurde, reicht ihm offenbar nicht. Er muss auch noch wissen, und zwar unbedingt!, ob er Russe, Ukrainer, Schweizer oder was auch immer ist. Wer hat uns bloss diesen Unsinn eingeredet? Und weshalb glauben ihn so viele? Oder sind es etwas gar nicht so viele?
Als die Sowjetunion sich 1991 auflöste, wurde die Ukraine unabhängig. Die Präsidentenwahl 2004 ging mit massiven Fälschungen, die „zum Teil von naiver Plumpheit“ waren, einher und wurden „zum Auslöser einer Massenbewegung, wie man sie nicht für möglich gehalten hätte.“ Daraus entwickelte sich die von vielen jungen Menschen, die nicht vom Sowjetsystem geprägt waren, unterstützte Orange Revolution, die in den Folgejahren jedoch ihr Vertrauenskapital verlor und von einer autoritären Kleptokratie (von 2010 bis 2014) abgelöst wurde. Doch ich will hier nicht das Buch nacherzählen, das mit dem Kapitel „Der Euro-Majdan, die Einmischung Russlands und die Destabilisierung der Ukraine“ endet und sich unter anderem mit der Frage auseinandersetzt, wie es zu den beiden zivilgesellschaftlichen Massenbewegungen (der Orangen Revolution und dem Euto-Majdan) hat kommen können. „In keinem anderen europäischen Land gab es seit der Revolution von 1989/91 einen vergleichbaren Massenprotest.“
Diese Kleine Geschichte der Ukraine, deren ausführlichster und detailliertester Teil von der Zeit ab 1991 bis 2019 handelt, schliesst mit dieser Mahnung aus dem Jahre 2019: „Auch fünf Jahre nach dem Euro-Majdan bedarf die Ukraine unserer Solidarität. Es geht nicht nur um die Zukunft der Ukraine, sondern es geht um Europa, um das europäische Projekt von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, um die Regeln der Internationalen Beziehungen und die Wiederherstellung der europäischen Friedensordnung.“
Andreas Kappeler
Kleine Geschichte der Ukraine
C.H. Beck, München 2022