„Warum sind wir nicht in der Lage, unser Denken und Handeln so zu ändern, dass das Leben von uns Menschen und der Erhalt unseres Lebensraums auf diesem Planeten nachhaltig gesichert sind? Warum können wir offensichtlich keine Schlüsse aus Fakten und Tatsachen ziehen?“, fragen die beiden Autoren in ihrer Einleitung. Über dem Orinoco scheint der Mond versucht darauf eine Antwort zu geben, nimmt das Ziel allerdings vorweg: „Wir reden in diesem Buch darüber, dass wir miteinander reden müssen, dass wir über geografische Grenzen, Vorstellungsgrenzen, Denkgrenzen hinweg miteinander reden müssen.“ So reden Politiker und Seelsorger, wenn sie ins Leere reden, zu Recht ins Leere reden, denn wir müssen nicht miteinander reden – wir sollten lernen, einander in Ruhe zu lassen.
Ich habe Über dem Orinoco scheint der Mond trotzdem mit Gewinn gelesen. Einerseits, weil es mir vieles in Erinnerung gerufen hat, dass ich bereits wieder vergessen hatte (etwa dass im August 2021 die halbe Welt in Flammen stand) oder mir so prägnant formuliert nicht bewusst war („Wir glauben nicht mehr an etwas, das grösser ist als die Menschheit selbst. Egal, wo wir hinschauen, wir glauben immer nur an das Machbare, das vom Menschen Machbare.“), andererseits, weil ich auf Gedanken stiess, die ich als Horizont-erweiternd erlebte (etwa, dass Kultur eine Art Angstbefreiungsprozess ist, „bei dem der Mensch in Gemeinschaft mit anderen versucht, mithilfe von Ritualen und Traditionen die Angst vor der Welt zu domestizieren, zu kultivieren, in seinem Inneren zu zähmen.“), dann aber auch, weil sich in mir immer mal wieder Widerstand regte. .
So behauptet etwa Harald Lesch: „Wir werden den Kurs erst dann ändern, wenn die Änderung Erfolg verspricht, wenn sich das Gefühl einstellt, es lohnt sich. Erst dann werden wir unser Handeln ändern.“ Wenn grundsätzliche Verhaltensänderungen so einfach zu bewerkstelligen wären, sähe die Welt entschieden anders aus. Nur eben: Der Mensch ist weder ein abwägendes bzw. kalkulierendes Wesen noch eines, das nur auf seinen Vorteil schaut (sicher, das ist er alles auch, etwa beim Einkauf im Supermarkt) – er ist entschieden komplexer. Und offenbar unfähig, in längeren Zeiträumen zu denken, mit Ausnahme der Chinesen …
Über dem Orinoco scheint der Mond überzeugt vor allem durch die nüchterne Beschreibung der herrschenden Verhältnisse. „Wir leben unter der Dominanz eines sozio-ökonomischen-technischen Regimes, das die ganze Zeit predigt, wir müssten Geld verdienen, in einem System, in dem Wissenschaft, Technik und Wirtschaft eng vernetzt und vollkommen durchökonomisiert sind (…) Wir leben eigentlich ständig am Rand des Wahnsinns, weil wir die Zeit – unsere Zeit – monetarisiert und technologisiert haben. Wir kommen nicht mehr mit, nicht mehr hinterher.“
Dass alles mit allem zusammenhängt, dass wir Menschen Teil der Natur sind – darauf weisen die beiden Autoren an vielen Beispielen eindrücklich hin. Ob allerdings interdisziplinäre Vorlesungen an Universitäten zu einer Weltsicht à la Humboldt („… ein Mann, der Gefühle und Fantasie in seiner Wissenschaft berücksichtigte …“) , an dem sich dieses Buch orientiert, führen können, bezweifle ich. Hilfreich sind hingegen Harald Leschs persönliche Ausführungen. „Man spürt am eigenen Leib, dass das Buch der Natur nicht mit mathematischen Symbolen geschrieben ist, wie Galileo Galilei es einmal gesagt hat. Man spürt schnell, dass in der Natur etwas ganz Grosses herrscht. Man merkt, überall ist Leben. Es gibt keine Lücke. Ständig und überall ist die Natur dabei, ihren Lebenswillen auszudrücken. Das Leben ist mirakulös, eine Form von Materie, die sich offenbar ohne Anlass ausdrückt und einfach nicht verschwinden will. Dem Leben ist nicht beizukommen.“
Eine sehr wahre, aber eben auch problematische Aussage, die ich mir von Professor Lesch, der ganz offensichtlich das Staunen und die damit einhergehende Ehrfurcht nicht verlernt hat, gerne gefallen lasse, von einem Klimawandel-Leugner, der den Satz „Dem Leben ist nicht beizukommen“ wohl etwas anders interpretiert, hingegen nicht.
Neben Alexander von Humboldt werden auch Norman Mailer, Hans Jonas, Hermann Hesse und andere, die ich schätze, mit hilfreichen Einsichten erwähnt. Klaus Kamphausen schreibt: „Und weil Schopenhauer sich nicht erklären konnte, wie beim Mitleid die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich für einen Augenblick aufgehoben wird, kam er zu dem Schluss, dass diese Schranke künstlich und das Ich eine Illusion sei. Mitleid empfinden heisst also nach Schopenhauer: Der mitleidende Mensch macht die Erfahrung, dass der andere nicht grundsätzlich anders ist, dass er und der andere eins sind.“
Um ein anderer Mensch zu werden, braucht es eine andere Erfahrung der Welt. Einsichten genügen nicht. Wir müssen anders handeln, dann folgt anderes Denken. Wir müssen uns Zeit nehmen, um uns mit uns selbst und unserer Stellung im Universum auseinanderzusetzen. „Wenn wir es nicht schaffen, Zeit zu haben, einfach einmal nichts zu tun, einfach einmal zehn Minuten am Tag irgendwo zu sitzen und sonst nichts, gar nichts zu tun, dann werden wir den Weg zu uns selbst, zu unserer Natur nicht wiederfinden.“ Wir können davon ausgehen, dass der umtriebige Harald Lesch weiss, dass das gar nicht so einfach ist.
Fazit: Vielfältig anregend und von praktischem Nutzen.
Harald Lesch / Klaus Kamphausen
Über dem Orinoco scheint der Mond
Warum wir die Natur des Menschen neu begreifen müssen, um die Welt von Morgen zu gestalten
Penguin Verlag, München 2022