Ein toller Titel, war mein erster Gedanke. Und ein genauso guter Untertitel, mein zweiter. Ja, so recht eigentlich gefallen mir die beiden sogar besser als der englische Originaltitel, „Unfinished Business. Notes of a Chronic Re-Reader“.
Eine Wiederholungsleserin, also eine Frau, die dasselbe Buch mehrmals liest, ist vermutlich eher die Ausnahme als die Regel. Jedenfalls wenn ich von mir her schliesse. Nun gut, ich bin keine Frau (und dass Frauen Bücher anders lesen als Männer, zeigen unter anderem diese Essays), doch Bücher mehrmals zu lesen, scheint mir trotzdem nicht besonders gängig.
Zu meiner Verwunderung erinnert sich Viviane Gornick nicht nur an den Inhalt, sondern auch an die Charaktere, Stimmungen etc. einst gelesener Bücher. Mir selber ist hingegen schon passiert, dass ich selbst nach zweimaligem Lesen so ziemlich überhaupt keine Erinnerung an die allermeisten Bücher habe, dafür sind mir oft der Ort bzw. die Umstände der Lektüre noch präsent. Auch einzelne Sätze sind mir gelegentlich geblieben (Horatio: „The readiness is all“), doch keine Zusammenhänge.
D.H. Lawrences Söhne und Liebhaber gehört zu den Werken, die Vivian Gornick mehrmals gelesen hat. Jedes Mal setzt sie den Akzent anders und erkennt schliesslich, „dass ich, die Leserin, die eigentliche Bedeutung des Buches ergründen musste.“ Sofern es denn so etwas wie „die eigentliche Bedeutung des Buches“ überhaupt gibt – was ich bezweifle. Denn was wir in ein Buch hineinlesen, gibt immer wesentlich mehr über uns selber Auskunft als über das Buch.
Was mir an Offene Fragen ganz besonders gefällt, sind die Ausführungen über Vivian Gornicks Aufwachsen „in einem proletarischen Einwandererviertel in der Bronx, wo die zahlreichen Geschäfte in der einzigen Einkaufsstrasse sämtliche Bedürfnisse befriedigten.“ In dieser langen Ladenfront befand sich auch eine Zweigstelle der New Yorker Leihbibliothek, in der sie sich durch die ganze Kinderbuchabteilung liest.
„Ich las immer und ausschliesslich, um die Macht des Lebens zu spüren.“ Es sollte lange dauern, bis sie schliesslich erkannte, dass „das zentrale Drama im literarischen Werk immer von der Schädlichkeit der menschlichen Selbstspaltung abhängt“ und ein gutes Buch diese zu heilen imstande scheint. Genauer: „Grosse Literatur, so dachte ich damals und denke es heute noch, ist nicht die Aufzeichnung einer errungenen Ganzheit des Seins, sondern die einer tiefen Anstrengung, die in ihrem Namen unternommen wurde.“
Ganz wunderbar dann ihre persönlichen Bezüge, etwa zu der mir nur dem Namen nach bekannten Colette, die zu sagen schien, was wirklich im Innern eine Frau ablief. Oder zu Natalia Ginzburg, deren Werk ich auch nicht kenne, und von der sie unter anderem zitiert: „Wir wussten nicht, dass in unserem Körper so viel Angst steckte … (wir) kehren überstürzt zu jener einzigen, herzzerreissenden Zärtlichkeit zurück.“ Als dann der Krieg und damit die Katastrophe kommt, und alle Gewissheiten hinwegfegt werden, „merkt sie zu ihrer Überraschung, dass sie an einer Gemeinschaft des Leidens beteiligt ist: ‚Wir lernen, den erstbesten, der vorbeikommt, um Hilfe zu bitten.‘ Aber auch:‘ … dem erstbesten, der vorbeikommt, Hilfe zu geben.’“
Offene Fragen, eine Fundgrube an Anregungen, macht mich nicht nur auf Geschichtenerzähler wie Abraham B. Jehoshua, Thomas Hardy oder Elizabeth Bowen neugierig, sondern regt mich auch an, mein eigenes Lesen und Schreiben („Obwohl ich mir damals dessen nicht bewusst war, hatte ich begonnen, subjektiven Journalismus zu schreiben“, konstatiert Vivian Gornick) zu reflektieren. Im Gegensatz zur Autorin, die bei jedem neuen Lesen Neues zu entdecken imstande ist (sich also entwickelt hat), scheine ich selber stehengeblieben zu sein, denn was ich einst unterstrichen hatte, scheint mir auch heute noch genauso zentral. Wobei: So eindeutig ist es nicht, auch ich setze die Akzente heute vielfach anders als in meiner Jugend, doch „meine“ tieferen Wahrheiten, so kommt es mir vor, sind nach wie vor dieselben.
Zu Vivian Gornicks wesentlichen Erkenntnissen bei ihrem Wiederlesen gehört, „die Urangst davor, die eigene Erfahrung zu begreifen. Was ich jetzt ‚zum ersten Mal verstanden hatte‘ war, wie sehr diese Angst in ihrer eigenen Unwissenheit schwelgt, wie heimtückisch ihr Widerstand ist.“
Fazit: Ein gut geschriebenes, überaus hilfreiches Buch, dass unter anderem deutlich macht, dass Verstehen nicht genügt, dass Handeln gefragt ist.
Vivian Gornick
Offene Fragen
Notizen einer passionierten Wiederholungsleserin
Penguin Verlag, München 2022