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Erste Schritte

Craig Brown: One Two Three Four

Der englische Originaltitel dieses Buches heisst One Two Three Four: The Beatles in Time. Dass ich ihn hier erwähne, liegt daran, dass ich den deutschen Untertitel, Die fabelhaften Jahre der Beatles, mit seiner Anspielung auf die Fab Four weit gelungener finde.

Wer mit den Beatles aufgewachsen ist, weiss, dass der Autor Craig Brown ins Schwarze trifft, wenn er festhält, dass man sich entscheiden musste, welchen der vier man am ehesten favorisierte bzw. mit wem man sich identifizierte. Ich zum Beispiel schwankte hin und her zwischen Paul und John, bis ich mich dann irgendwann einmal für eine gewisse Zeit für George entschied. „Die zwölfjährige Linda Grant aus Liverpool favorisierte Ringo, ‚aus unerklärlichen Gründen‘. In ihrer Schule gab es eine ‚brave Musterschülerin, die Paul am liebsten mochte. George war irgendwie gar nichts. Und John wirkte unnahbar, viel zu einschüchternd.’“

Es geschieht ausgesprochen selten, dass mich die ersten Seiten eines Buches Tränen lachen lassen. Das liegt an Sätzen wie: „Ringo war der Beatle für Mädchen, denen es an Ehrgeiz fehlte. Entschied man sich für ihn, bewies man eine gewisse Realitätsnähe. Es verstand sich von selbst, dass die anderen bereits vergeben waren, beim Schlagzeuger allerdings gab’s vielleicht noch eine kleine Chance.“ Oder die Schilderung der Familie Harrison, als während des Krieges deutsche Bomben auf Liverpool fielen. „… ihr Ledersofa, auf dem selten jemand sass, weil es besonderen Anlässen vorbehalten werden sollte, wird von fliegenden Glasscherben zerfetzt. ‚Hätte ich das gewusst, hätten wir uns all die Jahre auch draufsetzen können‘, meinte Mrs Harrison später.“

Für die Recherche an diesem Buch hat sich Craig Brown nicht nur bei Beatles-Historikern kundig gemacht, er hat auch an Touristen-Führungen durch Pauls und Johns Geburtshaus sowie über Hamburgs Reeperbahn, wo die Gruppe einst aufgetreten war, teilgenommen. Das ist überaus witzig geschildert – dabei wunderte ihn unter anderem, dass die englischen Führungen unter dem Siegel der Vertraulichkeit standen und der deutsche Führer recht eigenwillig unterwegs war. „Er rattert die Ereignisse und Jahreszahlen in halsbrecherischem Tempo herunter, als ginge es um die Zusammenfassung einer Zusammenfassung, die er schon hunderte Male zum Besten gegeben hat.“

One Two Three Four ist allerbeste Geschichtsschreibung („Wenn wir über die Beatles sprechen, sprechen wir über uns selbst.“), die im Bewusstsein verfasst wurde, dass „eine vermeintlich auf Objektivität beruhende Wissenschaft, sich zwangsläufig auf den Treibsand der Erinnerung stützt.“ So zeigt der Autor einmal in Tabellenform auf, wie willkürlich und subjektiv eine Schlägerei an Pauls 21stem Geburtstag geschildert wurde. Er lügt wie ein Augenzeuge, sagt bekanntlich ein russisches Sprichwort.

Craig Brown hat mit diesem Geschichtenbuch voller Anekdoten und Reflexionen ein Werk geschaffen, das der Welt und der Zeit wesentlich näher kommt als die sogenannte Zeitgeschichte, die zumeist von Personen und Sachen handelt, die mit dem wahren Leben bestenfalls am Rande zu tun haben. Mit anderen Worten: Für diejenigen, die mit dem Beatles aufgewachsen sind, waren die vier Pilzköpfe und ihre Musik Teil ihres Lebens – die Politik und die Politiker, von denen wir im Geschichtsunterricht meist hören, sind es hingegen nicht.

One Two Three Four macht mir unter anderem bewusst, wie vieles aus dieser Zeit ich gar nicht mitbekommen habe bzw. mir nicht wirklich bewusst war. Etwa die Dominanz der Beatles, die zum Beispiel am 4. April 1964 die ersten fünf Plätze der Hitparade einnahmen. Oder dass die alte Garde der Showbusiness, von Marlene Dietrich zu Cliff Richard von den vier jungen Männern Anfang zwanzig quasi hinweggefegt wurden. Oder dass sich das Leben von – alle im Alter von 9 bis 14 – Bruce Springsteen, Chrissie Hynde, Greg Khin, Ann und Nancy Wilson sowie Billy Joel sich durch diese Musik radikal änderte.

Und dann die Beatlemania, die ich noch nie so lustig beschrieben gefunden habe: „ …ein Mädchen auf einem Platz am Gang, das jedes Mal weinte, wenn die Scheinwerfer an- und wieder ausgingen. Gegen Ende, nach Twist and Shout, stellte sie sich auf ihren Sitz und schrie und weinte, bis die Nationalhymne durch die Lautsprecher dröhnt. In diesem Moment hörte sie ebenso wie all die anderen Mädchen auf zu schreien und stand stocksteif da. Kaum endete die Hymne – Gar-aar-ard Say-aay-aayve the Quee-eee-eeen! –fingen alle wieder an zu kreischen.“

Ich selber habe genauso empfunden wie Roz Chast, als sie She Loves You kurz vor ihrem neunten Geburtstag hörte, es ausdrückte. „Der Song liess mich zum ersten Mal erahnen, dass es da draussen ein andere Welt geben könnte …“. Diese Musik war eine Verheissung und stand für das Traumbild einer möglichen Zukunft, „die viel freudvoller und interessanter war als meine einsame und beinahe schon trostlose Kindheit mit den Hausaufgaben, Prüfungen, gemeinen Mädchen, dummen Jungs und Eltern, die sich über alles Sorgen machten und aus dem geringsten Anlass wütend wurden.“

Und wie immer passten Neuerungen, die nicht zu ihrem Vorteil sind, den Etablierten nicht. Sie verteufelten die Musik, regten sich über die langen Haare auf („Das ist heute fast unmöglich zu erklären, wie das wirkte … die HAARE“, so Bruce Springsteen), waren gegen alles, das sie aus ihrer comfort zone aufscheuchte. Die Beatles verkörperten Freiheit und veränderten damit die Welt weit drastischer als dies Dissidenten je vermochten. Und wurden dann von den Herrschenden vereinnahmt, denn sie brachten dem Land Ruhm und Geld, und nichts wurde damals wie heute mehr verehrt.

Der Beatles-Kult war jedoch auch ziemlich durchgeknallt, für ein Erinnerungsstück wie die Überstundenrechnung einer Angestellten im Haus von Ringo, war ein Sammler bereit 384 Pfund zu bezahlen. Die Götterverehrung nahm bisweilen auch makabre Züge an: „2011 wurde das Cover des Albums Double Fantasy, das John Lennon für seinen Mörder Mark Chapman signierte, für 532 000 Dollar versteigert.“

One Two Three Four zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass ganz viele und auf den ersten Blick unbedeutende Details (etwa die Geschichte über den Schlagzeuger Jimmie Nicol, der zehn Tage lang für Ringo einspringen durfte) zu einem überaus eindrücklichen Ganzen gefügt wurden, liegt an der überragenden Fabulierkunst des hellsichtigen, differenzierten und ausgesprochen humorvollen Craig Brown.

Fazit: Eine ganz wunderbare Zeitreise, sehr amüsant, höchst informativ, glänzend geschrieben. Eine Perle von einem Buch!

Craig Brown
One Two Three Four
Die fabelhaften Jahre der Beatles
C.H. Beck, München 2022

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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