Kaum etwas ist für uns Menschen so leitend wie unsere Erwartungshaltungen, weshalb ich denn auch, als ich las, dass der Autor Keiichirō Hirano aus Gamagōri stammt, diesen Roman noch positiver angehe als ich das eh schon tue, denn mit Gamagōri verbinde ich gute Erinnerungen, und unter diesen zwei Schnappschüsse einer Tür, an der zuerst eine Frau in einem Kimono und dann ein junger Mann, der einen Rucksack trug, vorbeigingen.
Es gehört zu den erstaunlicheren Dingen unserer Existenz, dass Wörter Bilder in unseren Kopf zaubern. Im Falle von Das Leben des Anderen ist es sogar ein ganzer Film, der mich in einer anderen, längst vergangenen Zeit wähnen lässt – ich musste zu Beginn dauernd an Hitchcocks Die Vögel denken, vermutlich des Ladens an der Bucht wegen, denn auch in diesem Roman spielt ein Laden eine wichtige Rolle, denn da lernen sich Rie und Daisuke kennen.
Das Leben des Anderen spielt übrigens nicht in einer längst vergangenen Zeit (es fühlt sich nur so an), sondern im Heute, auch wenn die Handlung sich durch etwas angenehm Zeitloses auszeichnet. Doch worum geht’s? Akira Kido, Ende dreissig, Scheidungsanwalt in Yokohama, wird von Rie, einer ehemaligen Klientin, aufgesucht und um Ermittlungen zu ihrem vor Kurzem verstorbenen Ehemann Daisuke gebeten, der offenbar ein anderer gewesen war als der, für den er sich ausgegeben hatte.
Wie fühlte es sich bloss an, das Leben eines Anderen zu leben? In intimen Momenten mit dem Namen eines Anderen gerufen zu werden? Als Kido sich einmal in einer anderen Stadt aufhält, gibt er sich in einer Bar als X, wie er den angeblichen Daisuke mittlerweile nannte, aus und ist ganz begeistert, „dass er sich mit seiner Stimme in einen Fremden hineinversetzen konnte.“ Von einem Juristenkollegen erhält er einen Hinweis: Könnte es sich bei Daisuke vielleicht um einen Identitätstausch handeln? Ein Strafgefangener scheint etwas zu wissen, Kido sucht ihn auf. „Es war ein wolkenverhangener kalter Tag, und wäre das Gebäude nicht eingezäunt gewesen, man hätte es für eine Schule halten können …“.
Es ist ganz Unterschiedliches, was mich neben der Identitätsgeschichte für diesen Roman einnimmt. Etwa die genauen und reflektierten Beobachtungen. „Es waren all die Landschaften und Sehenswürdigkeiten, zu denen es die Touristen zog, aber auch ganz gewöhnliche Orte, die nur für Fremde besonders schienen.“ Oder die Überlegungen zum japanischen Nationalismus – Kidos Vorfahren stammten aus Südkorea. „Du bist zwar ein Zainichi, aber in dritter Generation, also bist du fast schon ein richtiger Japaner.“ Oder über die Erscheinungsformen dieses Nationalismus. „… trotz seines Nachnamens Lee hatte er kaum Diskriminierung erfahren (…) sein Vater ihm den Ratschlag gab, ein Studium mit Staatsexamen zu absolvieren, da er bei späteren Arbeitsverhältnissen mit Diskriminierung rechnen müsse.“
Dass er daraufhin Jura studiert – „Schliesslich schrieb er sich mit einer sehr vagen Vorstellung, wie sie geisteswissenschaftlich interessierten Schülern eigen ist, für Jura ein.“ – gibt ihm dann die Möglichkeit an die Hand, sich jedenfalls rechtlich gegen mögliche Diskriminierungen zu wehren, auch wenn sich die reale Welt bekanntlich nur beschränkt an juristische Vorgaben hält.
Das Leben des Anderen spielt in ganz verschiedenen Gebieten, so etwa im Boxsport und bei Gegnern der Todesstrafe; auch die Jazzmusik kommt prominent vor. Dabei besticht der Autor durch scharfsinnige und immer mal wieder zum Schmunzeln anregende, originelle Betrachtungen. „Yanagisawa nickte, sein Kinn war voller kleiner Falten, wie bei einer getrockneten Pflaume.“
Während Kidos Nachforschungen leidet auch seine Ehe, insbesondere in Fragen der Erziehung des Sohnes sind er und seine Frau sich nicht einig. Besonders spannend fand ich, wie es der Autor schafft, Spannung zu erzeugen – durch genaue Beschreibung und den weitgehenden Verzicht auf Interpretation. „Beim letzten Besuch hatte ihn Omiuras Art wütend gemacht, doch heute verspürte er kaum Ärger, warum, wusste er nicht. Es war nicht so, dass er ihm jetzt angenehm war oder dass Omiura eine Form von Demut zeigte. Aber irgendetwas brachte Kido zum Lächeln. ‚Sie sehen gut aus.’“.
Fazit: Wunderbar subtil und vielfältigst anregend.
Keiichirō Hirano
Das Leben eines Anderen
Suhrkamp, Berlin 2022