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Erste Schritte

Jörg Lauster: Das Christentum

Getauft, Ministrant, Klosterschule bis zum Rauswurf nach drei Jahren – man müsste annehmen, das Christentum sei mir einigermassen vertraut. Ist es auch, hauptsächlich in der Vertrautheit mit Schuldgefühlen, einzelnen katholischen Priestern, deren Integrität ich bewundere, und dem absoluten Unverständnis in Sachen Dreifaltigkeit, die sich mir nicht einmal im Ansatz erschliesst. Mit anderen Worten: Ich bin das ideale Zielpublikum für das vorliegende Buch, das merke ich schon nach den ersten Seiten, die mich regelrecht begeistern. Dies ist auf das Talent des Autors zurückzuführen, Wesentliches auf einfache Art und Weise vermitteln zu können.

„Es gab in der Antike viele Wundertäter und Prediger. Das Erstaunliche ist, dass dieser eine, der sein Leben der Herrschaft Gottes verschrieb und dafür sterben musste, weit über seine Zeit und sein Wirkungsfeld hinaus Anhänger fand.“ Erstaunlich in der Tat, doch ist es wirklich so wie der nachfolgende Satz behauptet? „Seit zweitausend Jahren leben Menschen in vielfältigen sozialen Gestalten, religiösen Riten und ideellen Ressourcen aus der Kraft des Anbruchs des Reiches Gottes in Jesus Christus.“ Warum ich mich das frage? Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, was das Leben Jesu (und in diesem manifestiert sich das Reich Gottes) mit der Institution Kirche, wie ich sie wahrnehme, zu tun haben könnte.

Was wir über das Leben Jesu wissen, wissen wir vorwiegend aus den Evangelien, von denen Professor Lauster schreibt: „Sie wurden allerdings von Menschen überliefert, die nicht einfach aufzeichneten, wie etwas war, sondern bezeugen wollten, wie das, was war, in ihnen fortwirkte.“ Ein überaus erhellender Satz, der auch deutlich macht, welchen Problemen die wissenschaftliche Bibelforschung gegenübersteht. Erinnert hat er mich auch an Ajahn Sumedho, einen amerikanischen Theravada-Mönch, der einen Vortrag mit den Worten schloss: „Sollten Sie zum Schluss kommen, meine Ausführungen seien interessant gewesen, dann haben Sie mich gründlich missverstanden. Hilfreich sollten sie gewesen sein und das meint: Einen Unterschied in Ihrem Leben machen.“ Offenbar haben Lehren und Leben Jesu im Leben der Apostel einen Unterschied gemacht. Und im Leben der zeitgenössischen Gläubigen? Die Botschaft Jesu verträgt sich nämlich nicht mit den Gesetzen der Welt. Und: „Ein Leben aus der Gottesherrschaft bedeutet bedingungslose Ernsthaftigkeit.“ Ich frage mich, wo ich diese heute sehen könnte.

Die frühen Christen wollten sich nicht in den Staat integrieren, wurden verfolgt, nicht wenige starben als Märtyrer. Dass das Christentum später Staatsreligion wurde, hat damit zu tun, dass es ungemein wandlungsfähig ist und dabei auch nicht vor schweren Sündenfällen (!) Halt macht. „Im Sklavenhandel tritt eine tiefe Doppelgesichtigkeit der europäischen Kultur ans Licht: Ökonomisches Gewinnstreben steht im dauerhaften Widerspruch zu den humanistisches Idealen.“

So recht eigentlich komme ich aus dem Staunen gar nicht heraus, was natürlich auch mit meiner Ignoranz und meinem eurozentrischen Weltbild zu tun hat. So wusste ich gar nicht, dass der Katholizismus in Südkorea präsent, geschweige denn im Wachsen ist. Auch dass das Christentum weltweit eine wachsende Religion ist, „allerdings in sehr verschiedenen Erscheinungsformen“, war mir nicht geläufig.

Das Christentum ist in vier Teile gegliedert: Das Christentum in der Geschichte. Lebensformen des Christentums. Motive des Christentums. Das Jenseits als die Kraft des Diesseits.

„Ein Christsein ohne Kirche gibt es nicht – so wie es keine Kirche ohne Christinnen und Christen gibt.“ Auch wenn man allein beten kann, das Gemeinschaftliche ist sowohl Wesen als auch Ideal und zeigt sich unter anderem im Ritus.

Das christliche Weltbild versteht den Mensch als nicht von Natur aus gut, doch fähig, gut zu werden und in der Welt Gutes zu tun. Dazu gehört, sich der Sünden zu entledigen. Professor Lausters Ausführungen zur Sünde sind ein Augenöffner. „Mit ‚Sünde‘ ist die Erfahrung gemeint, dass Menschen dauerhaft das verfehlen, was sie sein könnten. Dabei scheitern sie nicht allein an den Umständen einer widrigen Welt, sondern immer auch an sich selber.“

Das Christentum ist ein ungemein anregendes Werk, das profund informiert und mir vor Augen führt, was mir nur sehr vage bewusst, doch nicht wirklich klar war. Etwa: „Nach Nordamerika gelangten die Europäer zunächst als Flüchtlinge, in Lateinamerika traten sie von Anfang an als Eroberer und Ausbeuter auf.“ Kein Wunder, waren die Ausprägungen ihres Glaubens sehr verschieden – dass sie sich jedoch derart variantenreich entwickelten, zeigt, neben vielem Anderen, dieses Buch auf.

Fazit: Erhellend und hilfreich.

Jörg Lauster
Das Christentum
Geschichte, Lebensformen, Kultur
C.H. Beck, München 2022

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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