Wir leben in Zeiten, in denen die Profitmaximierung über allem steht. In so ziemlich jedem Bereich, einschliesslich dem Gesundheitswesen, was so recht eigentlich absurder nicht sein könnte, wenn denn der gesunde Menschenverstand von Relevanz wäre. Nur eben: Er ist es nicht. Leider.
In den USA sind privat geführte Gefängnisse gang und gäbe; nächstens kommt womöglich die Feuerwehr dazu, die natürlich dann auch beweisen muss, dass sie wirklich nötig ist – vermutlich durch das Legen von Bränden. Durchgeknallter als der von der Sucht nach immer mehr getriebene Mensch geht kaum.
Der Chirurg Bernd Hontschik, geboren 1952, zitiert Marx und Engels. „Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ Ich bin mir nicht sicher, ob das so schlecht ist; ich denke, daran ist viel Positives. Doch dem Autor geht es um etwas anderes – um die Privatisierung, und diese kommt bekanntlich von privare (berauben), womit so ziemlich alles gesagt wäre.
Die moderne Welt zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass alles möglichst verkompliziert wird. Wir kennen das aus der Finanzindustrie, deren neu entwickelte Instrumente selbst Insider nicht zu verstehen scheinen. Und es gilt auch für das Gesundheitssystem. „Diese Gesundheitswesen verstehen selbst Eingeweihte kaum noch bis ins Detail, denn sie werden seit Jahren und Jahrzehnten in immer höherer Frequenz mit immer neuen sogenannten Gesundheitsreformen modifiziert.“
Zu den Pfeilern dieses Systems gehören die Krankenkassen, die wie alle sozialen Errungenschaften erkämpft werden mussten, was der Autor sehr schön darlegt. Dabei wehrt er sich auch heftig gegen die Einführung des Schuldprinzips, aus überzeugenden Gründen, wie ich finde, obwohl es mich stört, dass der Begriff der Schuld zu einem gesellschaftlichen Tabu verkommen ist. Keine Talkshow, die ohne die Formulierung „Wir wollen hier keine Schuldzuweisungen vornehmen“ auskommt.
Dass etwas kostendeckend zu sein hat, daran zweifelt heute kaum noch jemand. Und was Unternehmensberater eigentlich in Kliniken zu suchen haben, fragen sich nur noch Leute, denen nicht selbstverständlich ist, dass sich alles um Effizienz zu drehen hat. Angetrieben wird dieses Denken von der Gier.
Mit Gier ist übrigens auch eines der Kapitel in diesem höchst aufschlussreichen Aufklärungsbuch überschrieben. Es beginnt so: „Verwirrende Begriffe: ‚Medizin‘ wird mit ‚Medikament‘ gleichgesetzt. Oder verwechselt. Man nimmt seine ‚Medizin‘ ein. Um die Medizin, also das Medikament, dreht sich alles. Die Medizin, also die Heilkunde, wird auf die Medizin, also das Medikament, reduziert. Und daher ist die Pharmaindustrie so mächtig. Man ist ihr ausgeliefert.“ Und die Politik, vermag die denn gar nichts? Nun ja, was sind Politiker (von denen einige vielleicht einmal von Idealen beseelt sein mochten) denn anderes als Sprachrohre der Industrie?
Auch mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens setzt sich Bernd Hontschik in seiner Streitschrift auseinander. „Wer die Verfügungsgewalt über Daten hat, der hat die Macht – je mehr Daten, desto mehr Macht.“ Datenschutz, ein recht zahnloses Gebilde, hilft leider wenig gegen die Gier des Menschen nach Mehr-Mehr-Mehr.
Es gilt, grundsätzlich zu fragen: Worum soll es in der Medizin eigentlich gehen? Um den Menschen, also um Patienten und Patientinnen sowie um Ärzte und Ärztinnen und ihr Verhältnis zueinander. Der eigentliche Kern der Medizin, so Bernd Hontschik, sei das Menschenbild. Und genau damit, mit unserem Menschenbild, müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir nicht zu gut funktionierenden Gegenständen eines Profit-Programms werden wollen.
Fazit: Aufschlussreich und nützlich, anregend und wesentlich.
Bernd Hontschik
Heile und Herrsche!
Eine gesundheitspolitische Tragödie
Westend, Frankfurt am Main 2022