Als Saleh Omar auf dem Flughafen Gatwick landet, hat er eine Mahagonischachtel mit Weihrauch bei sich, deren Herkunft (und was drumherum erzählt wird) sich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht liest. Der Inhaber eines Möbelgeschäfts („… ich habe mich immer schon für Möbel interessiert. Zumindest beschweren sie uns und sorgen davor, auf die Bäume zu klettern und nackt ein Geheul anzustimmen, wenn uns der Schrecken unseres nutzlosen Daseins überkommt.“), Ehemann und Vater, bittet um Asyl. Dabei gibt er vor, weil ihm das geraten wurde, kein Englisch zu sprechen. Der Dolmetscher, der ihm gestellt werden soll, Latif Mahmud, stammt ebenfalls aus Sansibar und entpuppt als Bekannter. Die beiden verbindet eine gemeinsame Geschichte und diese macht einen grossen Teil dieses Buches aus.
Da ich seit rund 14 Jahren bei Asylverfahren dolmetsche, interessieren mich die Gedanken des Asylbewerbers Saleh Omar ganz besonders, denn diese kriegt man ja während des Verfahrens so nicht mit. Doch zuerst einmal hat er es mit dem Grenzbeamten zu tun, der ihm davon abrät, Asyl zu beantragen. „Es kann Jahre dauern, bis ihr Antrag bearbeitet ist, und dann schickt man Sie vielleicht trotzdem zurück (…) Das hier ist etwas für junge Männer, dieses Asyl-Spiel, denn es geht doch eigentlich nur darum, in Europa Arbeit und Wohlstand zu finden, oder?“
Alte Leute, die um Asyl nachsuchen, sind bei den Behörden wenig beliebt. „… zu alt, um in einem Krankenhaus zu arbeiten, zu alt, um einen künftigen Cricket-Nationalspieler zu zeugen, eigentlich für alles zu alt – mit Ausnahme von Sozialleistungen, betreutem Wohnen und staatlich bezuschusster Einäscherung.“ Eigenwilliger und trefflicher hat man das kapitalistische Wertesystem selten beschrieben. Wunderbar subtil auch, wie er die Engländer beschreibt, bei denen er unterkommen soll. „Engländern wie Mick und Celia war ich noch nie zuvor begegnet – sie mit ihrer kleinlichen und willkürlichen Mütterlichkeit und der sexuellen Färbung in ihren Bewegungen, die zu deutlich war, um nicht aufzufallen; er mit seinem Erscheinungsbild wohlgesonnener Hinfälligkeit.“
Dolmetscher Latif Mahmud unterrichtet an der Universität. Genau wie der Autor, weshalb ich denn auch (was Literatur-Diplomierte instruiert werden nicht zu tun) diese Sätze als mit Schmunzeln vorgetragene Selbstauskunft des Autors lese. „Ich verabscheue Gedichte. Ich lese und unterrichte sie und verabscheue sie. Ich schreibe sogar selber welche.“
Ich habe übrigens oft geschmunzelt bei der Lektüre von Ferne Gestade – der feinen, originellen und witzigen Formulierungen wegen. Als der Präsident seines Landes, von Amerika hofiert und zum Staatsbesuch nach Washington eingeladen, wurde dies auch gefilmt. „Der Film über diese Visite, der unseren Präsidenten zeigt, wie er lächelnd neben dem Herrscher über Hollywood und Rock ’n‘ Roll auf dem Rasen des Weissen Hauses steht, wurde bei uns wochenlang als Vorfilm in den Kinos gezeigt.“
Wunderbar gelungen ist auch die Schilderung von Latif Mahmuds Werdegang, dem zuerst ein Studium der Zahnmedizin in der damaligen DDR vorgeschlagen wurde, dann eines in Medizin …, doch ich ich will hier nicht vorgreifen. Nur dies: Seine Mutter, die Geliebte des zuständigen Ministers, spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle; der Vater hingegen ersetzte seine Barbesuche durch die Hingabe an Gott. „Es schien als hätte sich die Zentralachse seines Seins verlagert, sodass er jetzt in einer anderen Sphäre lebte als zuvor und dort auf Schwingungen reagierte, die allein er wahrnahm.“
Abdulrazak Gurnah sei ein wahrer Schriftsteller, der etwas über die Welt zu sagen habe, schrieb der Londoner Guardian, eine überaus treffende Aussage, die das Innehalten lohnt – und mir unter anderem zu Bewusstsein bringt, dass eher selten ist, dass jemand, der schreibt, auch wirklich etwas über die Welt zu sagen hat. Und wie selten Autoren so begnadete Menschenzeichner sind wie dieser.
„… der Hausmeister des Studentenwohnheims. Ein Mann in mittleren Jahren, der nie oder nur selten lächelte, die Studenten ansah, als wären sie eine unbegreifliche Erscheinung, und seinen Arbeiten nachging, als handelte es sich um Zumutungen. Das beruhigte mich ein wenig, denn in dieser Hinsicht war er genau wie der Hausmeister meiner alten Schule …“.
Ferne Gestade ist ganz vieles in Einem: Ein Eintauchen ins Leben in Sansibar, eine Zeitreise in die ehemalige DDR, ein Erfahrungsbericht über das britische Asylwesen. Und nicht zuletzt ein aussergewöhnlich gut geschriebenen Werk, das aufschlussreiche Einblicke in die Kolonialgeschichte aus der Sicht der Kolonisierten vermittelt, die vor allem erfahren mussten, dass die Kolonialmächte (Briten, Amerikaner, Chinesen, Russen, Ostdeutsche) sich nicht im geringsten für sie interessierten, sondern gemäss ihrer eigenen Agenda lebten.
Fazit: Ein wesentliches Buch, wunderbar erhellend. Und ein Lesevergnügen der Sonderklasse!
Abdulrazak Gurnah
Ferne Gestade
Penguin Verlag. München 2022