James Lee Burke zu lesen bedeutet in den Süden der USA einzutauchen und gleichzeitig eine Zeitreise zu machen. „Hier im tiefen Süden kann es dir auch heute noch passieren, dass du eines Morgens aufwachst und dich fragst, ob du ins Jahr 1862 zurückversetzt wurdest. Vielleicht wirst du dir dann sogar mit einem Anflug von schlechtem Gewissen eingestehen, dass dir eine solche Reise in die Vergangenheit nicht einmal unangenehm wäre.“
James Lee Burke zu lesen bedeutet auch den Regen aufs Dach prasseln und Frösche quaken zu hören, die Natur zu fühlen und die Sorgen eines Vaters um seine Tochter, die sich mit den falschen Leuten einlässt, nachzuvollziehen. Und von einem ausgesprochen gewalttätigen Amerika Kenntnis zu nehmen.
James Lee Burke zu lesen bedeutet aber auch sich in der Welt eines Detective namens Dave Robicheaux umzusehen, der viel erlebt, erlitten und nachgedacht hat – und seine Erfahrungen nun mit dem Leser teilt. Er ist ein anständiger, zweifelnder, humanistisch gesinnter Mensch, der keine Sympathien für die Anhänger der Todesstrafe hat, „vor allem, weil ihre Anwendung sehr willkürlich war“, und der doch weiss, dass sie in machen Fällen richtig ist.
Robicheaux, ein trockener Alkoholiker, ist ein eigenwilliger Charakter, der sich oft auf sein Gefühl verlässt, was für einen Säufer, auch für einen trockenen, nicht ganz unproblematisch ist. Den neuen Freund seiner Tochter mag er gar nicht, und dessen Kumpel ebenfalls nicht. Darüber hinaus ist er ein Romantiker. „Dort hörte ich zum ersten Mal La Jolie Blon … das traurigste Lied, das ich je gehört habe – eine Melodie, die man einmal hört und nie wieder vergisst.“ Recht hat er! Ich empfehle die Version von Gary U.S. Bonds.
Eine Zelle für Clete handelt wesentlich von Clete Purcel, Dave Robicheauxs bestem Freund. Wie der Autor diesen zerrissenen, selbstzerstörerischen Mann, der jedoch immer wieder auf die Beine kommt, charakterisiert, ist ein psychologisches Meisterwerk. Überhaupt ist James Lee Burke ein exzellenter Menschenkenner. So schreibt er etwa über einen brutalen Kotzbrocken von Gefängnisaufseher. „Vielleicht war er im Grunde gar kein so schlechter Mensch, sagte ich mir. Aber kaum denkt man mit einer gewissen Erleichterung, dass wir doch alle einen guten Kern haben, folgt schon die nächste Enttäuschung.“
Sieben junge Frauen sind ermordet worden (steht auf dem Buchumschlag; ich selber habe zwei gezählt, zusätzlich zu den vielen anderen Toten); Robicheaux und Clete Purcel ermitteln – dabei stossen sie auf ein ungemein gewalttätiges Amerika, das mit den Idealen der Gründerväter, auf die politische Kommentatoren und in den Massenmedien befragte Universitätsprofessoren ständig hinweisen, wenig bis gar nichts zu tun haben. Auch die sozialen Gegensätze sowie den alltäglichen Rassismus in Amerikas Süden stellt der Autor eindrücklich dar. In Sachen Aktivitäten der Behörden hält sich seine Achtung in Grenzen: „… war es genauso Normalität wie die Tatsache, dass die Planungsämter den Betreibern von Pornogeschäften und Massagesalons oft ganze Stadtviertel überliessen, die hauptsächlich von älteren und weniger wohlhabenden Leuten bewohnt wurden.“
Es geht um Öl, Landbesitz, soziale Gegensätze und um die Lektionen, die das Leben für uns bereit hält. „Wer sich einmal damit beschäftigt hat, wie die Medien funktionieren, der weiss, dass das Wichtige weniger in dem liegt, was geschrieben wird, sondern in dem, was unerwähnt bleibt.“ Oder: „Genauso wir wir keinen Einfluss darauf haben, wann und wie wir zur Welt kommen, liegt es nicht in unserer Hand, wann und wie wir sterben. Das ist jedoch kein Grund, sich ohnmächtig zu fühlen. Es ist, wie es ist.“
Ich kenne keinen, der mir den amerikanischen Süden – eine sehr eigene Gegend! – besser zu vermitteln wüsste als James Lee Burke, zu dem mir so recht eigentlich auch nach mindestens zehn Dave-Robicheaux-Krimis nur Gutes einfällt, obwohl er durchaus einen Hang zu Klischees hat: Ständig fahren Dave und Clete nach Hause, nehmen eine heisse Dusche und ziehen sich anschliessend „eine frische Unterhose und Hose an, dazu ein gebügeltes Hemd.“ Wer diese Hemden bügelt erfährt man allerdings nicht …
Im Klappentext ist zu lesen: „James Lee Burke zeichnet seine Figuren sorgsam mit feinen Pinselstrichen und erweckt sie so zum Leben.“ Feine Pinselstriche?! So ein Schmarren! Robicheaux geht zu Treffen der Anonymen Alkoholiker, wo es um die Absurdität und die Schrecknisse des Lebens, und ums Überleben geht. Feine Pinselstriche sind was für Schöngeister, nicht für James Lee Burke, diesen lebensweisen Mann, der spürt, „dass in Wahrheit alle Ereignisse zeitgleich ablaufen, als eine Art Traum im Bewusstsein Gottes.“
Wie alle, die das 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker wirklich begriffen haben, ist auch Dave Robicheaux spirituell unterwegs. Und das meint: In einem grösseren Ganzen zuhause, das die meisten Bewohner dieses Planeten nie wahrnehmen. „Wenn du Glück hast, lernst du in einem gewissen Alter, die Welt nicht von der anderen Wirklichkeit überzeugen zu wollen, die oft nur ein Fingerschnippen entfernt ist.“
Fazit: Grossartig! Wer wissen will wie der Süden der USA (praktizierende und trockene Alkoholiker inklusive) tickt, lese den cleveren und empathischen James Lee Burke.
PS: Wie man vom englischen Originaltitel „The Glass Rainbow“ auf Eine Zelle für Clete kommen kann ist mir schleierhaft, denn Clete, obwohl er reihenweise Leute umlegt, landet in keiner Zelle.
James Lee Burke
Eine Zelle für Clete
Pendragon, Bielefeld 2022