Dieses Buch erzählt die Geschichte der vier Philosophinnen Mary Midgley, Iris Murdoch, Elizabeth Anscombe und Philippa Foot. Sie lernten „die Philosophie auf ihre eigene Weise zu betrachten: als eine uralte Form des menschlichen Erkenntnisstrebens, die über Tausende von Jahren hinweg durch das Gespräch am Leben erhalten wurde und deren Aufgabe es ist, uns kollektiv dabei zu helfen, uns in einer riesigen Welt zurechtzufinden, die jeden einzelnen von uns übersteigt.“
Im Mai 1956 soll dem ehemaligen US-Präsidenten Harry S. Truman in Oxford die Ehrendoktorwürde verliehen werden. Elizabeth Anscombe passt das gar nicht, denn Truman hatte mit seiner Unterschrift die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki genehmigt. „Den Pazifismus hält sie für eine ‚Irrlehre‘, und sie ist auch nicht gegen die Todesstrafe. Und dennoch beharrt sie darauf: Trumans Handeln ‚ist Mord‘; er hat ‚ein paar Massaker‘ auf dem Kerbholz.“
Elizabeth kam übrigens im Alter von 13 zum aktiven Philosophieren, ausgelöst durch die religiösen Schriften G.K. Chestertons, der auch glaubte den Beweis für das Prinzip erbracht zu haben, dass jedes Ereignis eine Ursache haben muss. Zwei oder drei Jahre strengte sie sich an und produzierte ‚fünf Fassungen eines angeblichen Beweises‘, „wobei jede von ihnen ‚denselben Fehler aufwies, obwohl er jedes Mal raffinierter versteckt war.’“
Als die vier Frauen in Oxford die Modern Greats (Philosophie, Politik und Wirtschaft) studierten, befand sich die Welt im Zweiten Weltkrieg, was den beiden Autorinnen Clare Mac Cumhaill und Rachael Wiseman auch die Möglichkeit gibt, mit aufschlussreichen zeitgeschichtlichen Anekdoten aufzuwarten. So wurde etwa in der Bodleian Library Blut gespendet, „es macht nichts, wenn die Spender Malaria gehabt haben.“ Und Neville Chamberlain hielt die Tschechoslowakei „für ein weit entferntes Land, dessen Namen die meisten Engländer seiner Meinung nach nicht buchstabieren konnten.“ Die Arroganz der britischen Oberschicht hat sich seither nicht verändert.
Apropos Oberschicht: Philippa Foot stammte, im Gegensatz zu Mary Midgley, Elizabeth Anscombe und Iris Murdoch, als Enkelin des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Grover Cleveland aus dieser Klasse, deren Sitten in der Zwischenkriegszeit vorsahen, dass junge Frauen sich weder über den Völkerbund, den Vertrag von Versailles noch die göttliche Vorsehung äussern sollten. Zudem: „Jeder Hauch von Gelehrsamkeit konnte tödlich sein. Brille zu tragen war eine Katastrophe.“
In Zeiten des Krieges gilt es sich zu positionieren. Ob man gegen Hitler kämpfen sollte, war für „eine nicht unbeträchtliche Minderheit von Oxfords Studenten und Dozenten“ eine schwierigere Frage als für uns Heutige, da man damals weit weniger über Hitlers Schreckensherrschaft wusste. In ihrem ersten Pamphlet warnte Elizabeth Anscombe, Gefühle dürften „die Menschen nicht blind machen für ihre Pflicht, vor ihrem Handeln sorgfältig zu prüfen, ob das, was sie zu tun gedenken, gerechtfertigt sei.“
Als von Wittgenstein Begeisterter war ich besonders davon angetan wie Elizabeth Anscombe diesen grossen Eigenwilligen kennenlernte, denn dieser war bekannt und gefürchtet für das Chaos, das er im Leben der Menschen um ihn herum anrichtete. „Sie besass zwei Eigenschaften, die sie geeignet machten, seine Gesprächspartnerin und philosophische Freundin zu werden: Erstens, sie war fundamental verwirrt (…) Die zweite Eigenschaft war: Sie hatte einen religiösen Glauben, dem sie ihre Ernsthaftigkeit verdankte.“ Wunderbar getroffen!
Als sie von Oxford nach Cambridge umzieht, kriegt sie sowohl von Bertrand Russell als auch von Ludwig Wittgenstein Empfehlungen. Ihr Stipendium wird trotzdem abgelehnt. Die beiden Autorinnen kommentieren: „Möglich, dass der letzte Satz des Antrags den Ausschuss verärgerte: ‚Was die Schlussfolgerung betrifft, so weiss ich darüber noch überhaupt nichts.“ Nichts könnte das herrschende System besser charakterisieren als die Notwendigkeit, seinen Vorgaben zu entsprechen. Das wirkliche Leben hat im bürokratischen Ablauf keinen Platz.
Philippa Foot beschäftigte sich ihr Leben lang mit der Frage: „Kann es eine säkulare Philosophie geben, die mit dieser Sprache der Moral von objektiven moralischen Wahrheiten sprechen kann? Sie war überzeugt, dass Ayers moralischer Subjektivismus auf einem Denkfehler beruhen müsse und dass es ihre Aufgabe sei, diesen Denkfehler zu finden.“ Auch Mary Midgley, Iris Murdoch und Elizabeth Anscombe wollten „eine Welt mit objektiven moralischen Werten, anhand derer Handlungen als falsch oder schlecht und nicht nur als widersprüchlich oder unlogisch klassifiziert werden können.“
Im Zentrum dieses Buches stehen die Lebensumstände der vier Frauen und das meint natürlich auch die Zeit, in der sie gelebt haben, und die für ihr Denken zentral gewesen ist. Damit ist es auch ein Dokument dessen, was die vier wesentlich ausmacht – eine Philosophie von Menschen mit einem wirklichen Leben; keine philosophische Spekulation, sondern ein Denken, das sich an dem real existierenden Individuum orientiert.
The Quartet ist ein ungeheuer dichtes Werk, das äusserst detailliert darüber Auskunft gibt, wie in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Oxford philosophiert wurde. Auseinandersetzungen mit Hume, Kant und vielen anderen Philosophen figurieren dabei prominent. Was dieses Buch zudem höchst aufschlussreich macht, ist, dass die Philosophie hier gleichsam in den Alltag eingebettet ist, denn das Leben in London während des Krieges (so wurden etwa in den ersten zwei Kriegswochen auf Anraten der Regierung mindestens 400 000 Hunde und Katzen von ihren Besitzern getötet worden) und die Lebensumstände der vier Frauen werden ausführlich geschildert.
Clare Mac Cumhaill und Rachael Wiseman legen mit The Quartet ein Plädoyer fürs Denken vor, denn von diesem hängt wesentlich ab wie wir leben. In den Worten von Mary Midgley aus dem Jahre 2018: „Was letztlich mit uns geschieht, wird immer noch von menschlichen Entscheidungen bestimmt. Selbst die allerbesten Maschinen können keine besserer Entscheidungen treffen als die Menschen, die sie programmieren. Wir sollten also lieber unseren Verstand benutzen, anstatt darauf zu warten, dass Sachen die Dinge für uns regeln werden.“
Fazit: Eine gut geschriebene, spannende Einführung in philosophisches Denken, die auch dadurch besticht, dass sie im wirklichen Leben angesiedelt ist. Sowie eine eindrückliche Fleissarbeit – ein höchst anregendes Werk.
Clare Mac Cumhaill / Rachael Wiseman
The Quartet
Wie vier Frauen die Philosophie zurück ins Leben brachten
C.H.Beck, München 2022