Zuallererst: Papyrus ist mit einem sehr schönen Umschlag ausgestattet, liegt gut in der Hand – ein ästhetischer Genuss.
Irene Vallejo, geboren 1979, Studium der klassischen Philologie in Saragossa und Florenz, erinnert uns im Prolog dieses exzellent geschriebenen Werkes, dass Büchern etwas Magisches eignet. „Das Buch ist seit vielen Jahrhunderten unser Verbündeter in einem Krieg, der in keinem Geschichtsbuch steht. Es ist der Kampf um die Bewahrung unserer wertvollen Schöpfung: der Worte, die kaum mehr als ein Lufthauch sind; der Fiktionen, die wir erfinden, um dem Chaos einen Sinn zu geben und in ihm zu überleben; die wahren, falschen und immer vorläufigen Erkenntnisse, die wir in den harten Fels unserer Unwissenheit ritzen.“
Papyrus ist ein Buch voller faszinierender Geschichten, Irene Vallejo eine begabte Schreiberin. So erzählt sie von Alexander dem Grossen, der, bevor er im Alter von zweiunddreissig Jahren starb, siebzig Städte gegründet und unter póthos gelitten haben soll. „Es bezeichnet das Verlangen nach etwas Abwesendem oder Unerreichbarem, ein Verlangen, das Leid verursacht, weil es unmöglich zu stillen ist.“ Heutzutage würde man eine solche Obsession wohl als krankhafte Sucht bezeichnen. Auch sein Drang, „selbst zur Legende zu werden, in die Literatur einzugehen, um in Erinnerung zu bleiben“, zeugt nicht gerade von einem Menschen, der loslassen kann.
Alexander, so wird berichtet, soll Kleopatra 200 000 Bände zu Füssen gelegt haben. Auch heisst es, er habe nie eine Schlacht verloren, sei einmal grausam, ein andermal grossherzig gewesen. Das liest sich spannend – und stösst mir trotzdem etwas auf, denn es ist eine Art der Geschichtsschreibung, die eher im Bereich der Fantasie als der Realität angesiedelt ist, schliesslich waren die Heere Alexanders (und nicht er selbst) für den Ausgang der Schlachten verantwortlich. Auch ist nicht anzunehmen, dass er die 200 000 Bücher persönlich angeschleppt hat.
„Eine der merkwürdigsten Etappen meines Lebens hat sich in einer Stadt abgespielt, die von Millionen von Büchern bewohnt wird.“ Die Rede ist von Oxford und speziell von der berühmten Bodleian Library, in die man nicht einfach hereinspazieren kann. Das Prozedere, dem sie sich unterziehen musste, ist kaum anders als mit Paranoia zu bezeichnen. Irene Vallejo drückt sich hingegen so britisch-höflich aus wie das im Vereinigten Königreich üblich ist. „Der gesamte Ablauf schien von der verqueren Logik der Grenzregionen geprägt; so wie man bei Flügen in die Vereinigten Staaten ein surrealistisches Einwanderungsformular vorgelegt bekommt, auf dem gefragt wird, ob man vorhabe, einen Anschlag auf das Leben des Präsidenten zu verüben.“
Bibliotheken sind Orte, an denen die Fiktionen, die vor Tausenden von Jahren gedacht wurden, aufbewahrt werden. Es sind Orte der Geschichte und der Geschichten. Doch: „Was ist schon eine Geschichte? Eine Folge von Wörtern. Ein Atemzug. Ein Luftstrom, der die Lunge verlässt, durch den Kehlkopf strömt, auf den Stimmbändern vibriert und seine endgültige Form annimmt, wenn die Zunge über Gaumen, Zähne oder Lippen streicht. Etwas so Fragiles zu retten scheint unmöglich. Aber die Menschheit bot der Herrschaft der Zerstörung durch die Erfindung von Schrift und Büchern die Stirn.“ Damit wurden nicht nur Gedanken vor dem Vergessen gerettet, es wurde auch die Verbreitung von Geschichten gefördert. „Und wer die gleichen Geschichten kennt, ist sich nicht mehr fremd.“
Doch welche Bücher überleben eigentlich? Und wer bestimmt das? Wie alles andere auch im Leben, so befindet sich auch das Schicksal der Bücher im stetigen Fluss. Dass etwa Lukrez‘ Über die Natur der Dinge, eine Schrift, die als ketzerisch und gefährlich galt, noch heute aktuell ist, konnte kaum vorhergesehen werden. Und: „Gebildete Kritiker, besessen von didaktisch und moralisch wertvollen Werken, waren viel weniger von Shakespeare angetan als wir.“
Bücher können uns helfen zu überleben. John Cheever: „Die Literatur ist das einzige Bewusstsein, das wir besitzen (…) Die Literatur war schon immer die Rettung der Verdammten, sie hat Liebhaber inspiriert und geleitet, hat der Verzweiflung einen Weg gewiesen, und in diesem Fall kann sie vielleicht die Welt retten.“ Anregungen welche Bücher dafür in Frage kommen könnten, liefert dieses Buch zuhauf.
Was für ein Buch würde man auf eine einsame Insel mitnehmen? Die beste Antwort, so Irene Vallejo (und ich stimme zu), verdanken wir wohl Gilbert Keith Chesterton: „Nichts würde mich glücklicher machen als ein Werk mit dem Titel Handwerk des Bootsbaus.“
Papyrus ist ein äusserst vielfältiges Werk. So erfährt man etwa, dass das Wort Celebrity erstmals für Franz Liszt verwendet wurde. „So wie Rockstars heute mit der Unterwäsche ihrer Fans befeuert wurden, wurde Franz Liszt mit Schmuck beworfen. Er war die Erotik-Ikone des viktorianischen Jahrhunderts.“Man lernt, dass Tolstois Krieg und Frieden ursprünglich Ende gut, alles gut heissen sollte und Baudelaire sich für Die Blumen des Bösen eigentlich Lesbierinnen gedacht hatte,
Dieses Buch ist ein Dokument einer unerschöpflichen Neugier – höchst informativ und sehr unterhaltsam. Zu den Sätzen, die auf den Punkt bringen, worum es in diesem Text geht, gehören zweifellos diese: „Die Leidenschaft des Büchersammlers gleicht der eines Reisenden. Jede Bibliothek ist eine Reise; jedes Buch ist ein Fahrschein mit unbegrenzter Gültigkeit.“
Es ist eine Reise in die Vergangenheit, die Irene Vallejo präsentiert. Dabei macht sie auch deutlich, dass vieles, was wir für gänzlich neu halten, immer schon dagewesen ist. Etwa das Aufstellen von Listen. Oder das Katalogisieren. „Wie in unserer Zeit gab es auch damals starke Strömungen, die mit der Entwicklung unzufrieden waren. In den (von Alexanders Armee) eroberten Ländern, sperrten sich viele Untertanen dagegen, von den Besetzern kolonisiert zu werden. Aber auch Griechen dachten murrend an die edlen Zeiten ihrer Unabhängigkeit zurück und wollten sich an die neue kosmopolitische Gesellschaft nicht anpassen. Ach, die verlorene Reinheit des Vergangenen.“ Übrigens: „Jene erste Globalisierung nannte sich ‚Hellenismus’“.
Papyrus, diese ganz wunderbare Hommage ans Buch, ist von ansteckender Begeisterung durchdrungen. Es ist ein erfreulich persönliches Werk wie auch eine überaus lehrreiche Lektüre. Ein tolles Buch, das Freude macht!
Irene Vallejo
Papyrus
Die Geschichte der Welt in Büchern
Diogenes, Zürich 2022