Drei Wattwanderer, die sich gut kennen, machen sich normalerweise gemeinsam auf den Weg, doch dieses Mal sind nur zwei von ihnen unterwegs – der eine kommt zu Tode. Die Bundespolizei See in Cuxhaven setzt den inoffiziellen Ermittler Liewe Cupido, in Deutschland geboren, aber in den Niederlanden geboren, bekannt als der Holländer, auf den Fall an. „Dem Holländer braucht man nichts zu erklären, der findet den Weg allein. Und ich sag dir am besten gleich, sehr gesprächig ist er nicht.“
Ein Toter auf einer Sandbank ist das eine, wer für ihn zuständig ist das andere. Die Deutschen, die Niederländer? Die Juristerei hat dafür gesorgt, dass man sich über noch viel mehr streiten kann als man je gedacht hat – und dies (und vieles andere) führt Mathijs Deen sehr gekonnt vor.
Der Tote weist eine Wunde am Ohr auf. War es etwa kein Unfall? Der Überlebende hat vor einigen Jahren seine Ehefrau durch einen Segelunfall verloren und hat nun Visionen von ihr. Gibt es da einen Zusammenhang? Und warum hatte der dritte Mann an dieser schon lange geplanten Wattwanderung nicht teilgenommen? Der Holländer ist ein überaus vielschichtiges, clever aufgebautes Buch, das sich gegen das Ende in zu einem veritablen Thriller steigert.
Was mir diesen Roman wertvoll macht, ist nicht so sehr die gelungene Rahmenhandlung, sondern dass er mir eine Welt eröffnet, von der ich bisher nichts wusste. „Ein Wattwanderer geht ungeahnte oder vom Meer ausgelöschte Wege. Es ist eine Umgebung voller Unwägbarkeiten, in der die Natur das Sagen hat. (…) Der Wattwanderer und seine Ausrüstung, auf alles vorbereitet und doch nicht sicher.“
Unter anderem ist von einem Maler die Rede, der kurz vor Sonnenuntergang seine Staffelei aufstellt und sobald die Sonne die Konturen der Dünen hervorhebt, zu malen beginnt. „Er kommt nie sehr weit, aber darum geht es ihm nicht. Die Sonne verschwindet unter dem Horizont, der Moment ist vorbei, das Bild unvollendet.“ Die Redakteurin der Lokalzeitung porträtiert den Maler, den sie mit den Worten zitiert: „Wenn man nicht richtig hingesehen hat, ist man dann überhaupt da gewesen? Wann ist man irgendwo wirklich da?“
Es sind solche Sätze, derentwegen ich hauptsächlich lese. Sicher, auch wegen der Geschichte, die erzählt wird. Doch Geschichten haben ein Ende, die Realität nicht, und so endet die Reportage über den Maler „nach anderthalbtausend Wörtern abrupt, mitten im Satz“, genau so wie die Bilder des Malers. Die Redakteurin erklärt ihrem Chef: „Föhrmann malt seine Bilder auch nie fertig, aber gerade darauf kommt es ihm an. Er sagt es doch selbst! Dass das Leben nie fertig ist und dass es ihm genau darum geht.“ Wunderbar, und sehr wahr.
Der Holländer ist eine lehrreiche Lektüre, die auch über das Leben der Küstenregion aufklärt – ich möchte am liebsten sofort hin, so anregend ist das geschildert. Und von gescheiten, differenzierten und anregenden Sätzen durchzogen ist. „Über das Meer hatten Jan (Nordseefischer und Kapitän) und Anna (Meeresbiologin) höchst unterschiedliche Ansichten – bei diesem Thema konnte es schnell ungemütlich werden. Was sie zueinander trieb, hatte nichts mit Worten und Meinungen zu tun, sondern mit etwas anderem, das sich nur schwer benennen lässt, weil es sich tief unter der Oberfläche abspielt.“
Meisterhaft versteht es Mathijs Deen seine Figuren zu zeichnen. Gelernt hat es das, so ist zu vermuten, durch Zuhören. „’Je weniger man sagt, desto mehr erzählt der andere‘, erklärt Liewe. ‚Unbehagen löst die Zunge.’“
Der Holländer handelt von den Grundfragen der menschlichen Existenz – ein glänzender Einfall, diese in einem Grenzgebiet abzuhandeln, in dem das Watt seinen eigenen Gesetzen gehorcht. „Im Watt ist die Natur die Herrscherin, und diese Natur … Als Mensch ist man dort nur zu Gast, und man wird klein, sehr klein, und auch sehr bescheiden.“ Shakespeare kommt zur Sprache. „‘Breath‘, sagt er und setzt seine Brille ab. Du ahnst nicht wie oft Shakespeare dieses Wort verwendet.“ Und Becketts Warten auf Godot, worin auch der zutiefst wahre Satz vorkommt „People are bloody ignorant apes.“
Fazit: Realistisch, feinfühlig, wesentlich – eine seltene Kombination, ein berührender Roman.
Mathijs Deen
Der Holländer
mareverlag, Hamburg 2022