Eine junge Frau wächst auf einem Bauernhof auf, geht nach Dublin zum Studium, doch das Leben in der Stadt ist nicht so ihr Ding und Zuhause laufen die Dinge immer mehr aus dem Ruder. Und zwar ziemlich dramatisch.
Louise Nealon erzählt hier, zumindest teilweise, ihre eigene Geschichte – was sollte sie auch sonst erzählen, etwas anderes als uns selber bzw. unsere Wahrnehmungen (Fantasien eingeschlossen) können wir doch gar nicht kennen. Wie sie von ihrem Leben (oder von Debbie White, wie sie in Snowflake heisst – uninspirierter als einen englischen Titel für ein deutsches Buch zu wählen, geht kaum*) erzählt, weist die Autorin als geborene Erzählerin aus, die Irland und die dortigen Anschauungen überaus witzig und treffend zu vermitteln weiss.
Natürlich kommt Debbie mit Erwartungen an die Uni. „Es ist Orientierungswoche, und ich habe Collegefilme gesehen – wenn ich an der Uni meine zukünftige beste Freundin oder meine grosse Liebe treffe, dann am ersten Tag.“ Da sie den Weg zum Trinity College noch nicht kennt, fragt sie einen Polizisten. „Er lacht mich aus, und ich werde rot, hasse mich dafür. Ich gehe in die Richtung, in die er mich schickt, und bin fest entschlossen, ab jetzt so auszusehen.als wüsste ich genau, wo ich hinmuss.“
Snowflake machte mich oft lachen. „Meine Mutter hat einen Grossteil ihres Lebens verschlafen. Der Morgen liegt ausserhalb ihres Existenzbereichs. Ihr Wecker klingelt erst mittags und spielt dann Downtown von Petula Clark in Endlosschleife.“ Oder: „Was ist das erste Wort, das dir einfällt, wenn ich vegan sage?“, frage ich. „Hitler“, sagt Billy. „Genau.“ „Obwohl er wahrscheinlich gar keiner war.“ „Ich weiss.““
Auf einem Bauernhof aufzuwachsen mag idyllisch klingen, doch die Verhältnisse in Debbies Zuhause entsprechen nicht der Norm – ihren Vater kennt sie nicht, ihre Mutter ist ziemlich durch den Wind, der Onkel trinkt. Wobei: die Iren und Alkohol ist eine Geschichte für sich. „Ein Alkoholproblem zu haben, ist bei uns gesellschaftlich akzeptiert, solange man sich deswegen nicht in Behandlung gibt. Gerne mal einen über den Durst zu trinken, ist hier eine Überlebensstrategie.“
Bestens nachvollziehbar schildert sie ihr Uni-Dasein, diese Mischung von Überheblichkeit und Selbstzweifeln. Ihre Freundin Xanthe, die in der Stadt aufgewachsen ist, teilt ihre no-nonsense Haltung. „Was hast du als Nächstes?“, fragte Xanthe als ich zusammenpacke. „Literaturtheorie.“ „Du meinst: Phrasendreschen für Fortgeschrittene?“ „Da sagst du was.“
Die Therapeutin, die Debbie einmal aufsucht, schiesst sich auf Angststörungen ein. „Diese Unterstellung widert mich an. Angststörung ist doch nur ein geschwollener Ausdruck für Sorgen machen, und Sorgen machen ist keine Krankheit. Depression ist auch nur ein geschwollener Ausdruck für traurig sein, aber das Synonym ist stärker.“ Eine andere Therapeutin erweist sich hingegen als lebensklug und hilfreich.
Sie schätze an ihr, dass sie so echt sei, sagt Xanthe einmal zu Debbie. Es werde vermutlich an ihrer Bauernhof-Herkunft liegen. Nur, dass Debbie diese so recht eigentlich hinter sich lassen möchte. Und dann doch wieder nicht. Fraglich ist nämlich auch, ob das überhaupt geht. Sie sehe genau so aus wie ihre Mutter, sagt ein Verehrer der Mutter zur Tochter, deren Verhältnis zu ihrer Mam sich auch deswegen nicht ganz einfach gestaltetet, weil diese bipolar ist. Die Schilderungen der kranken Mutter gehören mit zu den stärksten Passagen dieses Buches.
Zu den vielen Gründen, weshalb Snowflake sich ganz unbedingt lohnt, gehört die unverblümte, direkte Sprache voller Witz. Sowie der Hinweise wegen; ich jedenfalls lege mir unverzüglich Alice im Wunderland (Debbies Lieblingsbuch) sowie Just Kids (Xanthes Lieblingsbuch) heraus. Und auch den Thomas Hardy, über den Debbie einen Aufsatz schreiben soll. „Ich will einen guten Essay schreiben, weil ich die Tutorin mag.“ Ein Satz, der mehr darüber aussagt, wie wir im Leben unterwegs sind als ganz viele noch so gescheite Analysen.
Dass dieses Buch den Titel Schneeflocke trägt, hat einerseits mit einem Fotografen zu tun, dessen Spezialgebiet die Schneefotografie ist, und andererseits mit Debbies Mutter: „Meine Mutter hat mir früher immer eine Geschichte vorgelesen, in der es um eine Schneeflocke ging, die nicht an Schnee glaubt.“ Wunderbar!
Snowflake erzählt vom Erwachsenwerden in Irland, von der Jungfräulichkeit, der Uni, dem Sich-Unwohl-Fühlen, von Partys, Küssen aus Neugier und viel Alkohol. Doch für mich ist es vor allem eine sehr berührende Geschichte über Debbies sehr spezielle und wundervoll inspirierende Mutter.
Fazit: Einfach grossartig!
* Der Verlag lässt mich wissen: „Wir haben den englischen Titel übernommen, weil der Begriff neben dem Vorkommen der tatsächlichen Schneeflocken im Buch als englischer Begriff auch in Deutschland eine Bedeutung hat, nämlich als abwertende Bezeichnung für die Generation der Millennials, die als übertrieben individualistisch und empfindlich gilt. Wir waren uns natürlich der Gefahr bewusst, dass das nicht allen Leser*innen geläufig ist, haben uns aber trotzdem dafür entschieden.“
Louise Nealon
Snowflake
Roman
mareverlag, Hamburg 2022