Panik und Schock ergreifen den PR-Berater Didrik von der Esch und seine Familie, als das Feuer im Waldgebiet nördlich des Siljan-Sees immer näher kommt. Ihr Auto springt nicht an, die Batterie ist im Eimer; sie fliehen zu Fuss, halten ein Auto an, versuchen gegen den Willen der Autobesitzer sich Zugang zu verschaffen, erfolglos. Ein starker, dramatischer und überaus überzeugender Einstieg.
Wir leben in einer Zeit, in der die Kinder, die den Kapitalismus verinnerlicht haben, wissen wie ihre Eltern zu manipulieren sind. „Dass mir meine Tochter etwas zeigt, das an Liebe und Respekt zumindest erinnert, passiert ausschliesslich dann, wenn ich mit der Kreditkarte in der Hand am Rechner sitze und das nächste Produkt für sie nach Hause bestelle.“
Wie immer in Krisensituationen brechen auch in der Klimakrise zugedeckte, nie angesprochene Konflikte auf. Lange zurückliegende Verletzungen, viel Verdrängtes, Schmerzliches. Denn wir werden gezwungen, uns mit dem auseinanderzusetzen, was ist – mit der Realität. Denn die Natur scheisst auf uns. Das ist das Wichtigste, das müssen wir erst Mal begreifen. Die Natur kümmert sich nicht. Sie bedankt sich nicht bei dir, weil du ein Hybridfahrzeug gekauft hast. Sie wird nicht nett, weil du eine Solaranlage eingebaut hast (…) Die Natur verhandelt nicht. Sie kann nicht überredet werden oder besänftigt oder genötigt. (…) Wenn wir davon reden, dass wir gerade ‚den Planeten zerstören‘ oder ‚die Natur schädigen‘, ist das eine selbstbezogene Lüge. Wir zerstören nicht den Planeten. Wir zerstören nur unsere eigenen Möglichkeiten, auf ihm zu leben.
Eindringlicher ist selten geschildert worden – und vermutlich eignet sich der Roman dazu besser als das Sachbuch, wo Gefühle eher selten zu finden sind – , dass wir uns nicht nur anders verhalten müssen, sondern dass sich auch unser Denken ändern muss. Unsere Debattenkultur lenkt ab, benebelt und lässt uns glauben, Kompromisse seien nicht nur möglich, sondern wünschenswert. Ein Irrtum sondergleichen!
Teil zwei handelt von Verleugnung und Zynismus. Didrik sucht mit seiner dreijährigen Tochter bei Melissa Stannervik Unterschlupf, einer Influencerin und Speakerin, mit der er einst eine Affäre hatte und die ihm seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie ist abhängig von Schmerzmitteln und weiss, dass sie das ändern muss.
Aus dem Internet erfahren sie, dass Hunderte Menschen dem Feuer bereits zum Opfer gefallen sind und die Behörden vor einer erhöhten Ansteckungsgefahr mit der neuen Virusvariante warnen. Die U-Bahn fährt nicht mehr, aus Angst der Strom könnte ausfallen; Gift-resistente Wanzen; zerstörte Cafés, geplünderte Boutiquen, Autowracks und liegen gebliebene Einsatzfahrzeuge. Die Menschen sind überfordert, wissen nicht mehr, was sie tun sollen. So apokalyptisch sich dies alles anfühlt, man hat gleichzeitig das Gefühl, mitten drin zu stecken, ganz so als ob dies bereits unserer Realität wäre – und sie ist es ja auch, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen
Trauer und Hass dominieren Teil drei. Der neunzehnjährige André Hell befindet sich mit seinem Vater, der Tennislegende Anders Hell am Mittelmeer. Er müsse künftig für sich selber aufkommen, eröffnet Anders Hell seinem fils à papa. Die beiden unterhalten sich über die Brände, die randalierenden Klimaaktivisten, über die Pest. André erwähnt die Seuche vom 18. Jahrhundert, als die Hälfte der Stockholmer Bevölkerung starb, und von der sein Vater noch nie gehört hat. „Das ist typisch für die Geschichte des Leids, wenn die Oberschicht nicht betroffen ist, wird es gar nicht registriert.“
Obwohl die jeweiligen Teile auch für sich gelesen werden können, gehören sie zusammen – man staunt, wie gekonnt Jens Liljestrand Verbindungen herstellt und die verschiedenen Geschichten zusammenzubringen weiss.
Teil vier handelt vom Widerstand. Die Situation hat sich zugespitzt; der Stromausfall dauert an, Züge bleiben in der Hitze stehen, einige Kinder sterben, andere werden ins Krankenhaus gebracht. „Dieser ganze Scheiss hier ist ja noch schlimmer als die Pandemie, wirklich nichts, absolut gar nichts funktioniert noch in diesem Kackland und …“. Wenn das in Schweden so ist, wie ist es dann wohl in weniger entwickelten Ländern?
Der Anfang von Morgen ist ein ungemein packendes Porträt unserer Zeit, in der ein kleiner Teil der Menschheit Privilegien geniesst, die einige von ihnen manchmal mit Scham erfüllen, von denen sie jedoch trotzdem nicht lassen wollen.
Immer dringender stellt sich die Frage nach einer grundsätzlichen Umbesinnung, einer Frage, der wir tunlichst aus dem Weg gehen, da sie uns an die Endlichkeit unseres Daseins erinnert. Die dramatischen Klimaveränderungen lassen uns jedoch keine Wahl und doch – und dies zeigt Jens Liljestrand ausgezeichnet – , bleiben wir in unserem gewohnten Denken und Handeln befangen, scheinen nicht fähig, zu tun, was das Leben von uns verlangt.
Ich dachte, jemand wird schon kommen und die Sache regeln. Jemand, der für Ordnung sorgt, nicht für dieses verdammte Chaos. Doch nicht alle denken so; die 14jährige Vilja findet im ganzen Chaos eine Antwort auf das Dilemma, in das uns die Klimakrise gestürzt hat, und die Jens Liljestrand so formuliert: „Die Menschheit hat nur einen Planeten, aber jeder Mensch hat nur ein Leben. Also, was willst du mit deinem machen?“
Fazit: Beklemmend, differenziert, wesentlich!
Jens Liljestrand
Der Anfang von Morgen
Roman
S. Fischer, Frankfurt am Main 2022