An Selbstvertrauen fehlt es dem Mann eindeutig nicht, denkt es so in mir, als ich den Titel Staatskunst auf mich wirken lasse. In jüngeren Jahren hätte mich wohl allein schon der Begriff der Staatskunst vor Ehrfurcht erschauern lassen, hätte ich auch gar nicht daran gezweifelt, dass es so etwas gibt und von aussergewöhnlichen Männern (Frauen wären mir damals gar nicht in den Sinn gekommen) betrieben wurde. Heutzutage ist mir nichts fremder als die Politik als Staatskunst zu bezeichnen – ausser Politikern und Historikern würde das wohl auch niemandem einfallen.
Der englische Originaltitel heisst zwar Leadership. Six Studies in World Strategy, was auch nicht gerade vor übertriebener Bescheidenheit zeugt, doch Staatskunst trifft Kissingers Selbstverständnis so recht eigentlich besser. Sechs „Staatslenker“ hat er in diesem umfangreichen Werk porträtiert: Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher. Das ist gut geschriebene, intelligente Elite-Geschichtsschreibung, in der politische Reden Konsequenzen haben und Politiker als eigenständige Gestalter der Welt auftreten und nicht etwa auf Sprachrohre der Industrie reduziert werden. Das liest sich so spannend und erhellend wie man es sich von einem ehemaligen Harvard-Professor erwarten darf.
Jeder Mensch, der einen anderen beschreibt, gibt vor allem Auskunft über sich selber, über seine Art und Weise, die Welt zu sehen. So hielt Kissinger Bonn als Hauptstadt eines wichtigen Landes für zu bescheiden. Seine Charakterisierung Adenauers als eines guten Beobachters beschreibt so recht eigentlich auch ihn selber.
Staatskunst ist ein überaus aufschlussreiches Werk, das ich besonders auch der vielen Anekdoten wegen schätze. „Sagen Sie nie jemandem, dass Sie nicht in der Lage sind, eine Ihnen anvertraute Aufgabe zu erfüllen.“ So Eisenhower, offenbar ein Militärkopf sondergleichen, zu dem damals 46jährigen Kissinger. Als im August 1969 ein amerikanisches Passagierflugzeug von Palästinensern gekapert und nach Damaskus umgeleitet wurde, war Nixons Reaktion: „Bombardiert den Flughafen von Damaskus.“ Eine Aussage, die wie Kissinger sofort erklärt, keineswegs wörtlich gemeint war.
Überhaupt scheint in der Politik das Indirekte und Erahnte gegenüber dem konkret Geäusserten Vorrang zu haben. „Irgendein Vollidiot ist ins Oval Office gekommen und hat tatsächlich das gemacht, was ihm gesagt wurde“, so der ehemalige Eisenhower-Berater und Nixon-Freund Bryce Harlow über das Watergate-Debakel. Als Nixon einmal einem Journalisten gegenüber bemerkte, „politische Führung im Atomzeitalter würde es – neben anderen Qualitäten – notwendig machen, die Bereitschaft durchblicken zu lassen, im Rahmen des nationalen Interesses irrational zu handeln“, stellt Kissinger unverzüglich klar, dass dies keine konkrete Handlungsanweisung darstellte, „jedoch in ihrem Kern eine fundamentale und bleibende Wahrheit über die Zerstörungskraft in den Händen der Atommächte“ reflektierte.
Was auch immer nationale Interessen sein mögen – und Kissinger nimmt oft auf sie Bezug – , es sind dies immer die Interessen der Herrschenden, und diese stehen einer gerechteren Welt feindlich gegenüber.
„Grosse Staatskunst ist mehr als die Beschwörung eines vorübergehenden Hochgefühls; sie erfordert die Fähigkeit, langfristig zu inspirieren und eine Vision am Leben zu erhalten.“ Langfristige Planung liegt auch diesem Buch zugrunde, denn der Historiker Kissinger muss akribisch Buch geführt über seine unterschiedlichen Begegnungen mit Politikern (Staatsmänner ist mir zu hochgestochen), um solche detaillierten Schilderungen zu liefern, wie er das in diesem Werk tut. Erhellend ist vor allem, wie scharfsinnig der Machtmensch die Machtmenschen versteht. Auffallend ist aber auch, dass diese Machtmenschen als allein von ihrem Intellekt geleitet dargestellt werden und immer sehr genau zu wissen scheinen, was sie tun. Verzerrter kann man die Realität kaum darstellen, auch wenn das die gängige Art und Weise ist, unser Dasein zu betrachten.
Natürlich vermag ich dieses umfangreiche, sehr detaillierte und flüssig geschriebene Werk sachlich nicht wirklich zu würdigen, denn dafür fehlen mir sowohl die politischen wie auch die geschichtlichen Kenntnisse. Doch immer mal wieder bin ich über eine Passage gestolpert, die mich aufmerken liess. „Trotz seiner Intelligenz und ausgeprägt geistigen Interessen war der junge Sadat noch keineswegs eine ausgeformte Persönlichkeit (welcher junge Mann ist das schon?), und jene Ideen, die er später entwickeln sollte, waren noch fern (das haben solche Ideen an sich). Dennoch war er für neue Erkenntnisse offen, voller Neugier und erfasste dadurch ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Und er hatte die Hartnäckigkeit, die Inhalte neuer Gedanken in die Tat umzusetzen.“ Das mag ja alles sein, doch woher will Kissinger das wissen, er kannte den jungen Sadat doch gar nicht. Beschreibt er da nicht eher sich selber?
Besonders ergiebig waren für mich die Ausführungen über China. So war mir nicht nur nicht klar, sondern ich habe mich auch sehr gewundert, „was in den seither (dem Treffen zwischen Nixon und Mao) vergangenen 50 Jahren der beherrschende Grundsatz der Beziehungen zwischen den USA und China geblieben ist: ‚Die Vereinigten Staaten erkennen an, dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Formosastrasse (Meerenge zwischen Festlandchina und der Insel Taiwan) sagen, dass es nur ein China gibt und dass Taiwan ein Teil Chinas ist. Die Regierung der Vereinigten Staaten stellt diese Position nicht in Frage.’“
Henry Kissinger ist mittlerweile 99 Jahre alt, verfügt also über einen aussergewöhnlichen zeitlichen Horizont, der ihm erlaubt, auf Dinge hinzuweisen, die wohl den meisten entgehen. Insbesondere seine Bemerkungen zu den Massenmedien – weil grundsätzlicher Art – verdienen unsere Aufmerksamkeit, denn diese fördern die emotionale Grossspurigkeit und verändern dadurch die Argumente, „die im öffentlichen Leben heutzutage überhaupt noch Ernst genommen werden.“
Staatskunst hebt auch die grossen Linien hervor. So kommentiert er etwa die revolutionären Fortschritte der Technologie mit: „Die letzte vergleichbar grosse Transformation, die Aufklärung, ersetzte das Zeitalter des Glaubens durch wiederholbare Experimente und logische Deduktionen. Jetzt wird dies durch das Vertrauen auf Algorithmen ersetzt, die in umgekehrter Richtung wirken und Ergebnisse anbieten, die nach einer Erklärung suchen.“ Woran soll man sich also orientieren in einer Zeit, der es „an einer moralischen und strategischen Vision mangelt“? Henry Kissinger plädiert für „Steuerleute mit Kreativität und Kraft“, doch vielleicht wäre es besser John Lennons Rat zu beherzigen: Don’t follow leaders. Das würde allerdings die Bereitschaft voraussetzen, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen – und wer will das schon?
Eine strenge und humanistische Erziehung sei „für Staatslenker von welthistorischer Bedeutung“ von grossem Nutzen, so der Autor, der nicht ganz zufällig über eine solche verfügt. Überdies betont er „die absolut zentrale Bedeutung des Charakters – dieser unentbehrlichsten aller menschlichen Eigenschaften (…) Ein guter Charakter ist zwar keine Garantie für weltlichen Erfolg oder staatsmännische Triumphe, bietet aber sehr wohl festen Halt im Sieg und Trost im Misserfolg.“ Es gehört zur Tragik der modernen Erziehung, dass von Charakterbildung weit und breit keine Rede ist.
Staatskunst lehrt mich nicht zuletzt, offiziellen Verlautbarungen noch mehr zu misstrauen als ich das eh schon tue. Es erinnerte mich auch an Eberhard Rathgebs Die Entdeckung des Selbst worin dieser mit Nietzsche und Schopenhauer darauf hinweist, dass das Leben grausamer und wilder war „als jeder theologische, historische und moralische Sinn, mit dem Rationalisten es zu bändigen und in eine trügerische Ordnung zu zwingen suchten.“ Der Ukraine-Krieg zeigt gerade, dass und wie unsere üblichen Vernunft-Ansätze vor der Realität versagen.
Henry Kissinger
Staatskunst
Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert
C. Bertelsmann, München 2022