Die Tote im Eisblock ist Band 19 der Dave-Robicheaux-Reihe. Und wiederum ist es ein umfangreicher Band – fast 700 Seiten. Es ist mir ein Rätsel wie der Mann das macht. So dicke Bücher von durchgehend hoher Qualität zu schreiben, die dann auch noch spannend zu lesen sind, einem immer wieder von neuem Louisiana näherbringen, und einen spüren lassen, dass wir ein Teil der Natur sind, meine ich.
Es gibt keinen Autor, von dem ich mehr Bücher gelesen habe als von James Lee Burke. Zum ersten Mal von ihm gehört hatte ich in Bangkok, Anfang der 1990er Jahre, von einem Amerikaner, der Fan des trockenen Alkoholikers Dave Robicheaux war. Es dauerte gerade mal ein Buch – und ich war selber zu einem Fan geworden.
James Lee Burkes hauptsächliche Protagonisten – Dave Robicheaux, der halbtags beim Iberia Parish Sheriff’s Department arbeitet, und der Privatdetektiv Clete Purcel – sind no-nonsense Typen, die eine Haltung und Grundsätze, und vor dem Dreinschlagen keine Hemmungen haben. Beide sind nicht unproblematische Charaktere mit Vietnam-Traumata, von denen sie immer mal wieder eingeholt werden.
Dave Robicheaux ist trockener Alkoholiker, Clete Purcel trinkt zu viel. „Tu mir einen Gefallen, Clete. Lass die Finger vom Schnaps. Zumindest tagsüber.“ „Hast du je auf Leute gehört, die dich vom Saufen abhalten wollten?“ Robicheaux weiss: Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker. „Erzählt dir ein trockener Alkoholiker, er habe seit seinem Entzug keine Probleme mehr, sollte man schleunigst das Weite suchen.“
Cletes Tochter Gretchen ist ein professioneller Killer (Killerin auf Deutsch?) mit Namen Caruso. „Waren seine Gene dafür verantwortlich, dass es eine Psychopathin mehr in der Welt gab?“ Als er sie als Assistentin rekrutiert, weiss sie nicht, dass sie seine Tochter ist. Soll er es ihr sagen? Robicheaux gibt ihm den Rat: „Lass die Würfel einfach rollen.“ Und das meint: „Man muss einen Schritt zurücktreten und alle Sorgen seines Lebens dem Wind anvertrauen.“ Ein weiser Mann, dieser Dave Robicheaux.
Zu Beginn von Die Tote im Eisblock steht ein grausamer Mord, der zu sogenannt gewichtigen Interessen führt – der Gier, die sich im Öl manifestiert. Ausgangspunkt für diese Geschichte war eine Ölkatastrophe im Golf mit elf Toten. „Die Öl-Bosse schwafelten von humanitären Werten und Verantwortungsbewusstsein, obwohl die Sicherheitsmassnahmen in Louisiana nachweislich die katastrophalsten im ganzen Land waren. Zu allem Überfluss waren die Offshore-Aktivitäten oft genug in Steueroasen wie Panama registriert.“
James Lee Burke zu lesen, bedeutet den sintflutartigen Regen, der Louisiana immer wieder heimsucht, auf der Haut zu spüren („Halb Louisiana steht unter Wasser, die andere mit einem Bein im Gefängnis. Es war unser Kongressabgeordneter, der diese weisen Worte sprach.“), sensibler für das Wetter zu werden, und sich keine Illusionen mehr über soziale Gerechtigkeit zu machen. „Ein Historiker, spezialisiert auf die Strukturen der mittelalterlichen Gesellschaft, würde zu der Erkenntnis kommen, dass es sich beim St. Mary Parish um ein prähistorisches Modell handelte, das direkt aus dem 13. Jahrhundert nach Louisiana teleportiert worden war.“
Es ist der nüchterne, illusionslose und sehr menschliche Blick auf die Welt, die die Dave-Robicheaux-Geschichten so überzeugend machen. James Lee Burke weiss, dass wir die überaus komplexe menschliche Seele nicht verstehen können, er weiss aber auch, dass der Mensch im Laufe seines Lebens sich nicht wesentlich ändert, dass das, was ihn an Kind geprägt hat, ihn auch als Erwachsenen ausmacht.
Die Tatsache, dass die Bürger Louisianas rassistische und korrupte Politiker wählen, erübrigt so recht eigentlich politische Diskussionen. Es geht in diesem Staat um Öl bzw. Geld, Umweltschutz und Klimawandel betrachtet die Mehrheit als Spinnerei. Doch die Realität, die James Lee Burke von diesem Staat zeichnet, macht keineswegs an den Staatsgrenzen Halt – wer verstehen will, wie es in den USA wirklich zugeht, sollte diesen Autor lesen. Auch, weil sich in diesem Buch so treffende Kommentare zu Alkoholikern („Nur ein Alkoholiker weiss, wie andere Alkoholiker ticken.“), zum Filmgeschäft (Burt Reynolds: „Warum soll man erwachsen werden, wenn man sein Leben lang Filme machen kann?“) und zum Alter finden kann („Das Alter ist ein ganz besonderer Dieb. Er schlüpft unbemerkt in deine Haut und arbeitet dort so still und methodisch, dass man nicht merkt, wie er deine Jugend stiehlt – bis man eines Tages in den Spiegel schaut und dort einen Mann sieht, den man nicht kennt.“).
Fazit: Alle James Lee Burke Bücher, die ich gelesen habe, habe ich in guter Erinnerung. Neben Sturm über New Orleans gehört Die Tote im Eisblock zu meinen Favoriten.
James Lee Burke
Die Tote im Eisblock
Pendragon, Bielefeld 2022