Corinna T. Sievers studierte Politik, Wirtschaft, Musikwissenschaften, Medizin und Zahnmedizin, lese ich im Klappentext. Toll, denkt es so in mir, eine derartige Neugier und ein solcher Wissensdurst sind ausgesprochen selten. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über die Prognostizierbarkeit von Schönheit – der akademischen Welt kann man wahrlich nicht vorwerfen, sie sei nicht fantasievoll (und dabei auch immer ganz nah an der Absurdität).
Bernard Rohr, stellvertretender Direktor und Chefchirurg in einer Berliner Kinderklinik, soll kurz vor seinem 65. Geburtstag siamesische Zwillinge aus dem Kongo trennen. „Der Tross bestand hauptsächlich aus Mitarbeitern der Hilfsorganisation J., alles gute Menschen, wenn auch nicht ganz über den Verdacht erhaben, hochmütig zu sein, allen voran die Fachbereichsleiterin Kongo, eine etwas magere Mittfünfzigerin.“ Treffender kann man Mitarbeiter von Hilfsorganisationen eigentlich nicht charakterisieren.
Die Trennung siamesischer Zwillinge ist nicht nur chirurgisch schwierig, sie beinhaltet auch medizinische, ethische, juristische und religiöse Fragen, die, wie heutzutage üblich, von allen Beteiligten inklusive der Eltern, besprochen werden müssen. Wie diese Entscheidfindung abläuft, ist meisterhaft dargestellt.
Die Geschichte wird aus Rohrs Perspektive erzählt. Und das meint: Die Autorin Corinna T. Sievers schreibt hier quasi als Mann – und zwar so überzeugend, dass ich (ich bin selber so in etwa im Alter des Protagonisten) aus dem Staunen gar nicht mehr herauskomme. Chefchirurg Rohr ist wie wir alle hauptsächlich von der Biologie (in seinem Falle: dem Sex) getrieben, die am Nachlassen ist. Er macht sich darüber keine Illusionen, akzeptiert die Realität nicht – und gibt Gegensteuer. Mit Propofol, einem Narkosemittel, von dem er abhängig ist, wenn auch nicht körperlich.
Das Denken des Bernard Rohr kreist hauptsächlich um Frauen und Sex, was er natürlich auch bestens zu rationalisieren weiss. „… die Geilheit, der es in vielen Situationen zu entrinnen gilt, ist Triebkraft für die komplexen Denkfunktionen des Grosshirns, sagt Freud, wohingegen er den Frauen eine Denkhemmung bescheinigt; für sie gebe es nichts zu sublimieren, ganz einfach, weil ihr Trieb zu schwach sei.“ Selten so gelacht.
Seine Auseinandersetzung mit seinem Geschlechtstrieb ist so recht eigentlich der rote Faden dieses Romans. Dieser obsessive, fast ausschliesslich triebgesteuerte Arzt, ist womöglich keine Karikatur und ganz nah an der Realität, hat es immer mal wieder in mir gedacht.
Um den stundenlangen Eingriff durchzustehen, eine chirurgische Herausforderung sondergleichen, braucht er Propofol. Dass dabei etwas schieflaufen wird, weiss der Leser schon bald, doch was genau passiert, wird erst gegen Schluss verraten. Es gelingt der Autorin hervorragend, die Spannung aufrechtzuerhalten.
Überaus aufschlussreich sind die Schilderungen des Klinikalltags. „Man sieht vieles als Arzt und hört nicht auf, sich zu wundern, was alles Gott in die Schuhe geschoben werden soll.“ Überhaupt ist dem Schreiben von Corinna T. Sievers ein nüchterner Blick und auch viel Witz eigen, etwa wenn sie sich über die Ruhe als oberstes Klinikgebot auslässt: „… man kennt das aus dem Fernsehen: Der Patient liegt farblos im Bett, auf dem Monitor eine grüne Nulllinie, auf dem Flur eine rote, blinkende Lampe, das Geheul einer Sirene, die ganze Station kommt zusammengelaufen, viel mehr Personal, als es im realen Leben in irgendeinem Krankenhaus gibt. Man weiss auch gar nicht, wo die sich vorher alle aufgehalten haben sollen, für den Patienten kommt trotzdem jede Hilfe zu spät.“
Propofol ist auch ein in vielerlei Hinsicht lehrreicher Roman. So lernt man einiges über siamesische Zwillinge, über Kinderarbeit und Bereicherung in den Schürfgebieten des Kongo, politische Korrektheit (“… neuerdings hatte meine Klinik sogar eine Antidiskriminierungsstelle.“) und und und … ein Potpourri der gegenwärtig aktuellen Themen.
Es ist der sehr eigene Ton sowie der packende Sprachrhythmus, die wesentlich diesen Roman ausmachen. Schnörkellos, direkt, kein Drumherum Gerede. Zudem ist es ein höchst instruktiver Text, der nicht zuletzt über die Spezies Mann, unsere Zeit, und über allerlei Medizinisches aufklärt.
Fazit: Eine spannende, gescheite, und höchst anregende Auseinandersetzung mit Eros und Thanatos.
Corinna T. Sievers
Propofol
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2022
Lieber Herr Durrer,
ich bedanke mich sehr herzlich für die schöne Rezension. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass man verstanden wird (-: !
Liebe Grüsse!
Ihre Corinna T. Sievers
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Vielen Dank für den sympathischen Dank, liebe Frau Sievers. Ich habe mich darüber gefreut.
Und wünsche Ihnen global alles Gute! Hans Durrer
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