Seit ich im Alter von 17 mein erstes Buch über Zen-Buddhismus gelesen habe, fühle ich mich Japanischem emotional verbunden. Ich verbinde damit eine Reduktion auf wirklich Wesentliches – und diese wirkt auf mich ästhetisch, schön und klar. Auch mein bisher einziger Japan-Besuch von vor drei Jahren tat dem keinen Abbruch. Daher mein Interesse an diesem Roman.
Am ersten Jahrestag ihrer Beziehung schenkt Hiroyuki, von Beruf Parfümeur, seiner Geliebten Ryoko ein selbst kreiertes Parfum namens „Quell der Erinnerung“. Am Tag darauf bringt er sich um. Ryoko will herausfinden, was Hiroyuki dazu getrieben hat, sich mit Ethanol das Leben zu nehmen. Sie entdeckt, dass er ein ganz anderer Mann war, als der, mit dem sie ihr Leben teilte.
Kennengelernt hatten sich die beiden, als Ryoko die Parfümerie aufsuchte, um für die Sonderausgabe einer Frauenzeitschrift eine Reportage zu schreiben. „Gott musste mich auserkoren haben, um mit diesem Menschen zusammen zu sein. Das war mein Gedanke. Absurd, oder?“ Seinen Tod hat sie vorausgeahnt. Viel ist in diesem Roman von Vorherbestimmung die Rede. Was uns bleibt und unzerstörbar ist, sind die Erinnerungen, belehrt ein Pfauenhüter Ryoko.
Der Duft von Eis handelt wesentlich davon, wer wir sind. Es ist dies eine Frage, die kein denkender Mensch ernsthaft beantworten kann. Jeder weiss, dass wir einmal so und dann wieder anders sind – und dass dies im Sekundentakt ändert. Eine ganz andere Frage ist, wie wir uns anderen zeigen bzw. wie wir von anderen gesehen werden wollen. Anders gesagt: Was wir alles verstecken. Auch vor uns selber.
Ryoko hat ihren eigenen Hiroyuki, einen ausgesprochen ordnungsliebenden Mann, der das Leben sehr systematisch angeht. „Er hat sämtliche Dinge sortiert, nicht nur seine Kleider und die Bücher, sondern auch meine Arbeitsunterlagen und Kosmetikartikel. Dazu hatte er mehr als zehn Tage gebraucht.“ Sie schätzt sein methodisches und ernsthaftes Vorgehen – es machte den Alltag einfacher.
Dass Hiroyuki einen Bruder hatte, erfährt sie erst nach seinem Tod. Auch irritiert es sie, dass eine ihr fremde Person ausführlich Auskunft über ihn geben kann. Ihre Nachforschungen führen sie auch auf eine Eisbahn, daher der Titel Der Duft von Eis, denn diese riecht genau so wie die, zu der Hiroyuki seinen Bruder früher mitgenommen hat. Überhaupt nimmt das Riechen einen zentralen Platz in diesem Roman ein. „Als Parfümeur muss man sich viel unterschiedliche Gerüche merken können. Insgesamt gibt es rund vierhunderttausend verschiedene Gerüche auf der Welt.“ Ryoko konstatiert, dass Hiroyuki und sein Bruder genau gleich riechen.
Es ist höchst verblüffend, worauf Ryoko bei ihren Recherchen, die sie auch nach Prag führen, wo weder die Rezeptionistin im Hotel noch der Fahrer vom Reisebüro eine ihr verständliche Sprache sprechen, alles stösst: Nicht nur war er ein grandioser Eiskunstläufer gewesen, sie hatte auch nie die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Bruder Akira bemerkt, die für andere Leute offensichtlich war. Zudem war Hiroyuki ein Mathe-Genie, der bei Mathematikwettbewerben eine Unzahl von Preisen gewonnen hatte. Die Einschätzung seiner Lehrer: Er sei ein ganz normaler Schüler, der in seiner Freizeit das Kursbuch der Nationalen Eisenbahngesellschaft lese, wenn es aber um Mathematik gehe …
Doch nicht nur Ryoko weiss vieles nichts aus Hiroyukis Leben, auch dessen Familie sind die Panikattacken, von denen Ryoko berichtet, völlig neu. Spätestens an diesem Punkt beginnt man sich zu fragen, was Hiroyuki nicht nur versteckt, sondern auch erfunden hat. Kann man das überhaupt wissen? Tut unser Hirn nicht sowieso, was es will? Bleibt uns eigentlich etwas anderes, als im Nachhinein versuchen, Sinn in dem zu finden, was, ohne dass wir es bewusst mitkriegen, passiert?
Es sind die genaue Beobachtungsgabe und die überraschenden Wahrnehmungen, die diesen Roman auszeichnen. Und die Porträts der dominierenden und kontrollierenden Mutter von Hiroyuki und seines Bruders Akira, der sich ihr im selben Mass unterwirft.
Der Duft von Eis handelt nicht unwesentlich von der Tragik der Hochbegabten. Doch es sind die Gerüche, die diesen Roman hauptsächlich ausmachen. „Gerüche verbreiten sich im Nu. Sie können nicht an einem Ort verweilen, sondern dringen überall ein, ganz wie es ihnen beliebt.“ Dieses Buch offeriert eine willkommene Wahrnehmungserweiterung!
Yoko Ogawa
Der Duft von Eis
liebeskind, München 2022