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Erste Schritte

Scott Hershovitz: Der Sinn von Allem oder zumindest fast

Autor Scott Hershovitz lehrt Rechtswissenschaften und Philosophie an der University of Michigan, und möchte dass man dieses Buch anders liesst als andere. „Sachbuchautorinnen und -autoren wollen meist, dass man glaubt, was sie in ihren Büchern schreiben. Sie hoffen, dass die Leserschaft ihre Autorität akzeptiert und ihre Sichtweise der Welt übernimmt.“ Und was schwebt ihm vor? Eine echte Auseinandersetzung mit seinen Ideen. „Das Ziel besteht darin, die eigenen Ideen genauso kritisch zu betrachten wie die Ideen anderer Menschen.“

Gegliedert ist Der Sinn von Allem oder zumindest fast in drei Teile: Moral verstehen, Uns verstehen, die Welt verstehen. Geleitet wird das Buch von Kinderfragen. „Wir sollten unsere Erwägungen öfter mal beiseitelassen und wie kleine Kinder denken. Auf diese Weise könnten wir zumindest teilweise etwas von ihrer Faszination für die Welt wiedererlangen – und uns selbst bewusst machen, wie wenig wir eigentlich davon verstehen.“ Wahre Worte!

Moral verstehen beschäftigt sich mit dem Recht. Was sind eigentlich Rechte? Ist Strafe sinnvoll? Kann Rache gerechtfertigt sein? Scott Hershovitz erläutert seine Auseinandersetzung mit diesen Fragen anhand zahlreicher Beispiele, die zum Mitdenken einladen. „Wenn Sie ein Recht haben, hat jemand anders eine Pflicht. Deshalb sagte ich, dass Rechte im Grunde Beziehungen sind.“ Schon, aber eben nicht immer: Hat man das Recht, einige Menschen zu töten, um dadurch andere zu retten? Einfache und klare Antworten darauf mag es geben, doch nicht für Juristen und Philosophen.

Auch mit der Rache beschäftigt sich Scott Hershovitz. Und erläutert, dass mit dem Rechtsgrundsatz Auge um Auge nicht notwendigerweise gemeint ist, weitere Augen auszustechen. So recht eigentlich geht es bei diesem sogenannten Talionsprinzip nämlich dabei um Empathie. „Durch das Talionsprinzip wird man dazu gebracht, den Schmerz anderer nachzuempfinden. Wer eine Person verletzt, setzt sich dieser Verletzung potenziell selbst aus. Auf diese Weise wird man gezwungen, sich ein Leid vorzustellen, bevor man es einer anderen Person zufügt.“ So habe ich das noch nie gesehen – und genau deswegen schätze ich dieses Buch.

Dass Gerichte die Möglichkeit haben für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen, leuchtet ein. Dass sie oftmals etwas ganz anderes tun, nämlich die herrschende Ordnung zu stützen, stimmt natürlich genauso, kommt jedoch in diesem Werk eindeutig zu kurz.

Doch ich will hier nicht das Buch nacherzählen und ab und zu einen möglicherweise kritischen Einwurf machen, der belegen soll, dass ich mir bei der Lektüre Gedanken gemacht habe. Vielmehr will ich auf zwei willkürlich ausgewählte Beispiele hinweisen, die der Autor anführt, und die ich als hilfreich empfunden habe. Etwa das Prinzip des am geringsten verstärkenden Reizes, das anhand einer Delfintrainerin wie folgt erklärt wird: „Wenn ein Delfin etwas falsch macht, ignoriert die Trainerin ihn. Sie schaut den Delfin nicht einmal an, da nicht beachtete Verhaltensweisen in der Regel von selbst verschwinden.“ Gleichzeitig wird bereits der kleinste Schritt in Richtung der erwünschten Verhaltensweise belohnt. Und dann der nächste. Und so weiter.

Philosophieren heisst Fragen stellen; Aussagen nicht einfach hinzunehmen, sondern sie anzuzweifeln. Wobei: Auch das kann problematisch sein, denn der Zweifel kann auch bewusst zur Verunsicherung eingesetzt werden. Nehmen wir den Klimawandel: Dass unser Kohlendioxidausstoss den Klimawandel verursacht, lässt sich beweisen. Nicht zu hundert Prozent, doch fast. Wer mit dem Kohlendioxidausstoss Geld verdient, wird dieses „fast“ bewirtschaften und damit Zweifel säen. Die Tabakindustrie tut das schon lange. Die Ölindustrie ebenfalls. Was also ist zu tun? Ein Erkenntnistheoretiker schlägt vor, über Wahrscheinlichkeiten statt über gesichertes Wissen zu sprechen. Denn: „Wir müssen nicht wissen, um zu handeln. Wir begründen ständig Dinge mit Wahrscheinlichkeiten.“ Ein genauer Blick auf die Wirklichkeit war schon immer hilfreich!

Fazit: Inspirierend und von praktischem Nutzen.

Scott Hershovitz
Der Sinn von Allem oder zumindest fast
Überraschende Einsichten eines Philosophen
Ludwig, München 2022

Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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