Rohstoffhändler Anton, nach zehn Jahren in Moskau seit über zwölf Monaten beruflich inaktiv, wird von einem Headhunter in New York („Wenige Orte werden so überschätzt wie New York … Das traf auf alle sogenannten Weltstädte zu.“) als Wunschkandidat an ein Unternehmen vermittelt, für das er in Kasachstan einen Stahlkonzern gründen soll.
Um dabei erfolgreich zu sein, muss man die richtigen Leute kennen, und an die kommt Anton denn auch überraschend schnell heran. Im Roman geht das, im richtigen Leben ist das etwas schwieriger, trotzdem lernt man in Beutezeit einiges über das Geschäftsgebaren in der früheren Sowjetunion zu Beginn der 2000er Jahre. Nach den Angriffen auf die Zwillingstürme beschäftigte Geschäftsleute vor allem die Frage, ob der Dollar schwächer oder stärker werden würde …
Bereits in seinem ersten Roman Blasse Helden, der zunächst unter dem Pseudonym Arthur Isarin erschien, hat Boris von Schirach gezeigt, dass er spannend und unterhaltsam zu erzählen weiss. Und das tut er auch in Beutezeit. Gleichzeitig vermittelt er ein überaus anschauliches Bild von Kasachstan. „Das jüngst errichtete Hotel sah aus, als wäre ein im Westen verwirklichter Architekturplan aus den Achtzigerjahren noch einmal realisiert worden (…) Auf einem der Fernsehkanäle wurde der Präsident gefeiert, auf dem nächsten der Premierminister.“ Ich ziehe solche Beschreibungen jeder politischen Analyse vor.
Auch über China werde ich aufgeklärt. „Solange China bettelarm gewesen war, hatte man das Land im Westen eher bemitleidet oder verehrt. Aufsteiger waren dagegen unbeliebt, da schlug der Futterneidreflex verängstigter Wohlstandsbürger durch.“ Und über die Schweiz, die ihre Neutralität der Welt als Business-Modell zu verkaufen versteht, das auch die Anschläge in New York nicht zu erschüttern vermochte, wie Anton bei einem Besuch in St. Gallen lernt. „’Kunst und Kommerz schliessen sich bei uns nicht aus‘, präzisierte der Notar für Anton und führte als Beispiel langatmig die gelungene Restaurierung der Bauernstube eines Heimatmuseums an, deren Kosten Russen jüngst grosszügig, öffentlichkeitswirksam und steueroptimiert übernommen hatten.“ Treffender kann man mein Herkunftsland wahrlich nicht beschreiben!
Meine liebste Aufklärung betraf jedoch die Medien: „Für die altgediente Journaille änderte sich dabei wenig; statt wie bis vor zehn Jahren aus ideologischen Gründen die Falschmeldungen der TASS zu verbreiten, erschien jetzt, wofür bezahlt wurde.“ Schön gesagt. Und mich an die bekannte Definition der Pressefreiheit erinnernd, gemäss welcher diese darin besteht, dass ein paar Reiche ihre Meinung veröffentlichen können. Auch die Arbeit der Fernsehjournalisten, die sich jeweils an Tatorten einfinden, wird wunderbar treffend charakterisiert. „Da es nichts zu berichten gab, interviewten sie sich gegenseitig über das, was sie im Fernsehen gesehen hatten.“
Hat der Westen eigentlich den Osten verändert oder der Osten den Westen? Anton kommt zum Schluss, dass „abgesehen von stilistischen Feinheiten, seit den Medici und Fugger, alles beim Alten geblieben war. Vielleicht bestand der einzige Unterschied darin, dass die einen Raffael und Dürer, die anderen Repin, und wieder andere Mondrian den Vorzug gaben.“ Andererseits: Unterschiede gibt es natürlich, vor allem im Bezug auf Gewaltanwendung. Und dass die Mentalität östlich es Urals auch nur irgendwie kompatibel sei mit westlichen Vorstellungen, glaubt höchstens, wer noch nie dort war.
Beutezeit ist auch eine nützliche Lektüre, die nicht zuletzt deswegen überzeugt, weil sie nicht pädagogisch belehrt, sondern leicht und witzig unterhält. Als Antons uigurische Geschäftspartnerin vor dem Gang zur deutschen Botschaft, wo sie hofft, ein Schengen-Visum zu ergattern, fragt, ob dreitausend Dollar wohl reichen, wird sie von Anton zurecht gewiesen. „Auf keinen Fall wirst du da drin jemanden bestechen.“ „Warum nicht?“ „Ist unüblich.“ „Ich habe anderes gehört.“ „Lass mir meine Illusionen. Sollten die jetzt auch schon die Hand aufhalten, dann nur wegen eurer Neigung, jeden zu kaufen.“
Wobei: Korruption und Nepotismus scheinen in Kasachstan mehr als nur gängig, sie sind so recht eigentlich der Normalfall. „Wer es könnte, aber nicht tut, wird verspottet.“ Als Anton auf der Skipiste einen amerikanischen NASA-Ingenieur trifft, der von der Sojus-Rakete schwärmt („Die Schlichtheit ihres Designs ist genial.“), wird er auch mit einer bestechenden Weltansicht vertraut gemacht, gemäss welcher die allermeisten Menschen damit beschäftigt sind, „die herrschende Meinung ihrer Umgebung herauszufinden, um sie dann zu übernehmen. Ist evolutionsbedingt, hat die Überlebenschancen erhöht.“ Diese Theorie hat überdies den Vorteil zu erklären, weshalb unabhängig denkende Typen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. „Wer die Harmonie der Gleichgesinnten stört, wird ausgestossen. Das stärkt den Zusammenhalt der Gruppe.“
Beutezeit machte mich auch immer mal wieder laut heraus lachen, vor allem die Dialoge haben es mir angetan. „Du hast also Zweifel?“ „Nein, ich bin Muslima.“ „Das wusste ich gar nicht.“ „Sehr gemässigte Sunnitin.“ Und dann die Schilderung eines Fluges nach Tschetschenien! Keine vier Pferde brächten mich dazu, in dieser Weltgegend einen Inlandflug auch nur in Betracht zu ziehen! Als Leser amüsierte ich mich jedoch köstlich.
Einen Roman zu schreiben, bedeutet ja immer auch davon zu berichten, was einen selber fasziniert, stört, umtreibt etc. Der Hinweis auf das Buch der Worte des Humanisten Ibrahim Qunanbajuly (1845-1904), genannt Abai, macht unter anderem deutlich, dass es überall auf der Welt, ungeachtet des jeweiligen Systems, unabhängige Denker gibt.
Fazit: Erhellend, clever, sehr lustig und so absurd wie das richtige Leben.
Norris von Schirach
Beutezeit
Penguin Verlag, München 2022