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Erste Schritte

Klaus Scherer: Kugel ins Hirn

Klaus Scherer arbeitet als Sonderreporter beim NDR. Ein Jahr lang hat er Menschen begleitet, die gegen die Kriminalität im Internet vorgehen. Fahnder der Landeskriminalämter, verdeckte Ermittler des Verfassungsschutzes sowie Staatsanwältinnen. Anlass dazu war das neue Gesetz über Hetze im Netz, das wegen seines Antragsvorbehalts allerdings keine juristische Sternstunde gewesen ist.

Hat sich durch das Internet wirklich so viel geändert? Die Jugend dachte doch schon immer anders als die Eltern, Parallelwelten – man denke nur an gewisse städtische Milieus – gab es auch schon immer. Berührungspunkte existierten trotzdem. Doch diese, wenn es sie überhaupt noch gibt, scheinen zunehmend rar. Trumpisten, so Klaus Scherer, „wird keine Quelle der Welt an der eigenen Wahrheitsversion mehr zweifeln lassen. Und auch die von Kriegspropaganda getriebenen Anhänger Wladimir Putins dürften, wie wir seit dessen Überfall auf die Ukraine gelernt haben, kaum noch unabhängige Informationen erreichen.“

Mit Verlaub: Es gibt keine Wahrheitsversionen, es gibt nur die Wahrheit. Und es ist auch nicht so, dass unabhängige Informationen einen wirklichen Unterschied machen. Leider. Das lässt sich in Ländern beobachten, in denen die Korruption gang und gäbe ist. Die Menschen dort wissen das, man muss sie nicht darüber aufklären, doch ihr Wissen darum macht keinen Unterschied.

Dass Lügen, Hass und Hetze im Internet die gesellschaftliche Ruhe und Ordnung bedrohen, ist für mich keine Frage. Das liegt auch daran, dass jede technische Neuerung das Bestehende verändert und oft in Frage stellt. Sicher, Gewalt und Drohungen kam es schon vor dem Internet, doch bringen neue Möglichkeiten auch immer wieder neue und andere Ausprägungen von Gewalt hervor. Man denke etwa ans Happy Slapping.

Kugel ins Hirn zeigt den Reporter Scherer bei der Arbeit. Das ist spannend zu lesen, auch natürlich, weil es aufzeigt, wie Medienleute ticken. Oder genauer: Wie dieser Reporter tickt. „Im Vorgespräch habe ich sie als resolute Ermittlerin kennengelernt. Sorgsam formulierte Sätze, direkter Blick. Dass sie mit Drohungen rechnen muss, wenn sie sich im Fernsehen äussert, weiss sie. Andere lehnten meine Anfragen deshalb ab. Sie nicht. Sie weiss um die Bedeutung der Öffentlichkeit, wenn es um die Prävention von Straftaten geht.“

Man erfährt also wie Klaus Scherer vorgeht, wen er wie befragt, was für Annahmen er korrigiert. Und man lernt wieder einmal: Die Lage ist schwierig. Einerseits, weil weder Ignoranz noch Gesinnung strafbar sind, andererseits, weil der Justiz, die sich grösstenteils an Gesetze vor der Internetzeit zu halten hat, oftmals die Hände gebunden sind.

Was dieses Buch auch deutlich macht, ist die Mär von der Justiz, die angeblich auf der Wissenschaft gründet. Dass ein und derselbe Sachverhalt oft ganz unterschiedlich bewertet wird, weist eher darauf hin, dass Entscheide bereits getroffen werden, bevor man Begründungen darüber austauscht. „Merken Sie sich“, meinte ein Dozent während meines Jurastudiums, „das Schlimmste ist, nicht zu einem Entscheid zu kommen. Begründungen finden wir dann immer noch.“

Verblüfft hat mich, dass viele das Netz für eine straffreie Zone halten. Wie ignorant muss jemand eigentlich sein, um einen Aufruf zum Mord als legal einzustufen? Interessant auch: Nicht alle verstecken sich hinter der Anonymität, es gibt auch echte Bekenner, die überhaupt kein Problem haben, zu ihren menschenverachtenden Äusserungen zu stehen. Und dann gibt es auch die, die sich im richtigen Lebern als ganz umgängliche Personen erweisen, auch wenn sie im Internet quasi eine andere Persönlichkeit annehmen.

Reporter Scherer berichtet nicht nur, er fragt sich auch Grundsätzliches: Woher kommt eigentlich dieser Groll? Wie alle anderen auch, weiss er darauf keine Antwort, doch wie man darauf reagieren soll, das weiss er: mit gelassener Routine, mit den Mitteln des Rechtsstaates.

Kugel ins Hirn schliesst mit dem Oberhasser und notorischen Lügner aus Queens, der wenig überraschend auch beim Golf betrügt, und so recht eigentlich bei allem, was er äussert nur sich selbst beschreibt. Wie geht man mit so jemandem um? So wie der im Buch zitierte Demokrat Barney Frank. „Er war bereit zuzuhören. Aber nicht, sich auf jede Argumentationsebene zu begeben, die er dadurch nur aufgewertet hätte.“

Fazit: Guter Journalismus, nützliche Aufklärung.

Klaus Scherer
Kugel ins Hirn
Lügen, Hass und Hetze im Netz bedrohen die Gesellschaft / Unterwegs mit Strafverfolgern
Droemer, München 2022

Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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